Unified Patent Court

Lokalkammer Mannheim

Einheitliches Patentgericht

Juridiction unifiee du brevet

UPC_CFI_219/2023

App_589186/2023

Anordnung

des Gerichts erster Instanz des Einheitlichen Patentgerichts erlassen am 8. Dezember 2023

Antragsteller

1)Panasonic Holdings CorporationVertreten durchChristopher Weber
1006, Oaza Kadoma, Kadoma-shi
571-8501
Osaka
JP

Antragsgegner zu

3)Xiaomi Technology Germany GmbHVertreten durchPrinz zu Waldeck und Pyrmont
(Partei des Hauptverfahrens - Not provided)
Niederkasseler Lohweg 175
40547
Düsseldorf
DE

Streitpatent

Patent Nr.Inhaber
EP2568724Panasonic Holdings Corporation

KURZE DARSTELLUNG DES SACHVERHALTS:

Die Klägerin ist der Ansicht, dass die Klageschriften bereits wirksam an die Beklagten zu 1, zu 2, zu 7 und zu 8 zugestellt wurden, indem die an diese Beklagten gerichteten Klageschriften an die in Deutschland belegene Geschäftsadresse der Beklagten zu 3 am 21. August 2023 zugestellt wurden. Die Beklagten zu 1, zu 2 und zu 8 haben ihren Sitz in der Volksrepublik China, die Beklagten zu 7 in der Sonderverwaltungszone Hong Kong der Volksrepublik China (im Folgenden: Hong Kong).

Der Mutterkonzern der Beklagten halte ausweislich des Geschäftsberichts 2021 sämtliche Anteile an den Beklagten zu 1, zu 2, zu 3, zu 7 und zu 8 entweder unmittelbar oder mittelbar durch zwischengeschaltete Gesellschaften, an denen der Mutterkonzern wiederum sämtliche Anteile halte.

Die Beklagte zu 3 sei die Deutschlandzentrale des Konzerns der Beklagten, deutsche Vertriebsgesellschaft und für die deutschsprachige Homepage des Konzerns der Beklagten verantwortlich. Auf der Homepage werde unter Führungsteam der Vorstand der Muttergesellschaft, der Xiaomi Corporation, vorgestellt, nicht aber die Geschäftsführer der Beklagten zu 3, der deutschen Vertriebs-GmbH. Die Unternehmensgruppe der Beklagten trete damit bewusst als Einheit und nicht als Bündel nationaler Gesellschaften nach außen auf. Die Beklagte zu 3 schließe ferner Geschäfte im Namen des Mutterkonzerns ab.

Den Beklagten zu 1, zu 7 und zu 8 seien die hiesigen Klagen bekannt, wie sich aus einem vor dem UK High Court geführten Verfahren ergebe (Anlage KAP A 24). Aus Aussagen in diesem Verfahren ergebe sich, dass eine einheitliche Vertretung der europäischen und asiatischen Beklagten der Unternehmensgruppe vor der Lokalkammer Mannheim erfolge. Daher seien sie zustellungsbevollmächtigt. Die Beklagte zu 2 führe für den gesamten Konzern der Beklagten die Verhandlungen über standardessenzielle Patente und stehe daher in ständigem Austausch mit den lokalen Beklagten. Die Kenntnis der Beklagten zu 1, zu 2, zu 7 und zu 8 von den Verfahren ergebe sich zudem aus Email-Korrespondenz mit den Beklagten (Anlage KAP A 25), sie sei überdies durch Presseverlautbarungen öffentlich bekannt.

Der Antrag finde seine rechtliche Grundlage in Regel 275.2 VerfO. Die Schritte, die bereits unternommen worden seien, um die Zustellung zu bewirken, seien ausreichend, um eine rechtsgültige Zustellung anzunehmen. Die Lokalkammer München habe zurecht entschieden (UPC_CFI_5/2023 – ORD_576855/2023), dass der Antrag nicht zur Voraussetzung habe, dass eine Zustellung nach Regeln 270 bis 274 VerfO nicht habe vorgenommen werden können. Von der erforderlichen Kenntnis könne ausgegangen werden, wenn ein rechtliches Verhältnis eine Wissenszurechnung erlaube oder konkrete Umstände vorlägen, die eine Kenntniserlangung begründen könnten. Beides liege hier vor. Auch das chinesische Verfahrensrecht sehe die Möglichkeit vor, dass an eine ausländische juristische Person wirksam durch Zustellung an eine inländische Person zugestellt werden könne.

Die Beklagte zu 3 hat mit Schriftsatz vom 6. Dezember 2023 – wegen Funktionsfähigkeit des CMS per Email auf Anordnung des Berichterstatters übersandt – Stellung genommen und im Wesentlichen vorgetragen, dass die Beklagte zu 3 entgegen der Ansicht der Klägerin keine Niederlassung der Beklagten zu 1, zu 2, zu 7 und zu 8 sei. Die Anordnung der Zustellung als nach Regel 275.2 VerfO bewirkt verstoße gegen fundamentale Verfahrensgarantien, zumal diese Regel evident subsidiär gegenüber einem zuvor zu unternehmenden Zustellversuch nach den für die Auslandszustellung geltenden Vorschriften sei.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

Der Antrag nach Regel 275.2 VerfO ist zurückzuweisen.

1.

Bereits der bloße Wortlaut der Regel 275 VerfO lässt für die von der Klägerin vertretene Ansicht keinen Raum. Die Norm bestimmt in Absatz 1, dass eine alternative Zustellung allein dann in Betracht kommt, wenn zuvor eine Zustellung nach den Abschnitten 1 und 2 des Teils 5, Kapitel 2 nicht bewirkt werden konnte. Daher ist zwingende Voraussetzung, dass überhaupt ein Zustellungsversuch nach den Regeln 270-274 VerfO vorgenommen wurde. Da der Geschäftssitz der Beklagten zu 1, zu 2, zu 7 und zu 8 außerhalb der Vertragsstaaten des EPGÜ belegen ist, hat eine Zustellung nach Regeln 273 und 274 VerfO zu erfolgen. Entgegen der Argumentation der Klägerin sehen diese Regeln keine Möglichkeit der Zustellung an einer Niederlassung vor. Diese Möglichkeit eröffnet allein Regel 271.5 VerfO für die Zustellung innerhalb der Vertragsstaaten. Dies ist konsequent, weil die Vertragsstaaten des EPGÜ auch allein insoweit die Rechtsmacht hatten, im Übereinkommen und der Verfahrensordnung Regelungen über die möglichen Zustellungsorte zu treffen.

Selbst wenn man diese Vorschrift – wie nicht – auf die Fälle der Auslandszustellung nach Regeln 273 und 274 VerfO erstrecken wollte, fehlt es an substantiiertem Vortrag der Klägerin dazu, dass es sich bei der Beklagten zu 3 um die Niederlassung gleich aller vier Gesellschaften handelt, hinsichtlich der die Zustellung als bewirkt angeordnet werden soll (so auch zum Begriff der Niederlassung im deutschen Zivilverfahrensrecht (§ 21 ZPO) für die Unternehmensgruppe der Beklagten LG München I Anlage FBD 7).

2.

Soweit eine Zustellung außerhalb der Vertragsstaaten des EPGÜ betroffen ist, verweisen die Regeln völkerrechts- und unionsrechtskonform zutreffend auf die Regelungen, die für die Zustellung innerhalb der Europäischen Union und zwischen Staaten gelten, die Vertragsparteien des Haager Zustellungsübereinkommens sind.

a)

Vorliegend muss der Zustellungsversuch gemäß Regel 274(a)(ii) VerfO nach dem Haager Zustellungsübereinkommen (HZÜ) vorgenommen werden, da die Volksrepublik China und Hong Kong nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung (EU) 2020/1784 fallen, aber Vertragsparteien des HZÜ sind.

b)

Ein solcher Zustellversuch hat bisher nicht stattgefunden. Vielmehr hat die Kanzlei der Lokalkammer bei der Klägerin bislang zwar die für die Zustellung erforderlichen Dokumente, insbesondere Übersetzungen, angefordert. Indes sind diese bislang von der Klägerin nicht für die Bewirkung der Auslandszustellung vorgelegt worden.

c)

Regel 275.2 VerfO kann entgegen der Ansicht der Lokalkammer München bereits im Grundsatz nicht dahin ausgelegt werden, dass sie eine Zustellung ermöglicht, ohne zuvor den Versuch einer Zustellung nach den für Auslandszustellung geltenden Vorschriften unternommen zu haben. Diese Regel ist wie die Beklagten zutreffend argumentieren vielmehr eine Ausnahmevorschrift. Erst, wenn eine Zustellung nach den Abschnitten 1 und 2 versucht wurde, aber nicht erfolgreich war und daher sodann eine alternative Zustellung nach Regel 275.1 VerfO auf Antrag hin angeordnet wurde, greift diese.

Norm. Sie eröffnet dann, wenn auch die so angeordnete alternative Zustellung ihrer-

seits nicht erfolgreich war, als ultima ratio die Möglichkeit im Einzelfall, bereits unter-

nommene Schritte für die Zustellung ausreichen zu lassen. Die Regel ermöglicht es hin-

gegen nicht, die die Mitgliedstaaten des EPGÜ bindenden völkerrechtlichen Verträge

wie das Haager Zustellungsübereinkommen zu missachten und eine Zustellung auf-

grund einer Wissenszurechnung im Unternehmenskonzern als bewirkt anzusehen. Die

förmliche Zustellung an die beklagte Partei ist ein international anerkannter Grundsatz

und keine überflüssige Förmelei. Die Zustellung dient dazu, dem Adressaten Gelegen-

heit zu verschaffen, das Dokument der Klageschrift zur Kenntnis zu nehmen und seine

Rechtsverteidigung darauf einzurichten.

Dies folgt bereits zwingend aus Art. 24 (1)(d) EPGÜ, wonach für das EPG die die

Vertragsmitgliedstaaten bindenden internationale Übereinkünfte gleichsam bindend

sind. Die Vertragsmitgliedstaaten konnten und wollten die Befugnis zur Entscheidung

von Patentstreitigkeiten nur in dem Rahmen auf das EPG als gemeinsames Gericht der

Mitgliedstaaten (Art 1(2) EPGÜ) übertragen, wie es die eingegangenen

völkervertraglichen Verpflichtungen und das Unionsrecht zulassen. Würden über Regel

275.2 VerfO die vorrangigen Vorschriften der EU-Zustellungsverordnung und des

Haager Zustellungsübereinkommens ausgehebelt, stellte dies eine Verletzung von

Unions- und Völkerrecht dar. Weder die Verordnung (EU) 2020/1784 noch das Haager

Zustellungsübereinkommen lassen die von den Klägern vertretene Wissenszurechnung

als Ersatz für eine förmliche Zustellung zu.

aa. Nach Artikel 1 HZÜ

ist das Übereinkommen in Zivil- und Handelssachen anzu-

wenden, in denen ein gerichtliches Schriftstück zum Zweck der Zustellung in das

Ausland zu übermitteln ist. Das HZÜ fordert, dass entsprechende Schriftstücke

nach einem in dem Übereinkommen vorgesehenen Verfahren tatsächlich über-

mittelt worden sind (Art 15 Absatz 2 a) HZÜ. Ein Zustellversuch und die tatsäch-

liche Übermittlung nach den Vorschriften des HZÜ ist unentbehrliche Voraus-

setzung für die Entscheidung in der Sache (so zutreffend Hess NJW 2001, 15,

17).

bb. Auch die EU-Zustellungsverordnung

statuierte Entsprechendes in Art. 22 (vgl. Fahrbach/Schiener IWRZ 2017, 16, 21). Für fiktive Zustellungen ist insoweit kein Raum. Soweit eine Zustellung unter der Geltung der EuZVO betroffen ist, hat der Gerichtshof ausdrücklich festgestellt, dass auch eine solche, auf einer inlän-

dischen Fiktionsvorschrift bewirkte Zustellung bei Wirkung gegenüber einer

ausländischen Partei als Auslandszustellung im Sinne der Verordnung anzuse-

hen ist und dass die Verordnung für derlei Fiktionen keinen Raum lässt (EuGH

Urt v. 19.12.2012 – C-325/11, EuZW 2013, 187 – Alder). Dies kommt nunmehr

auch durch die Neufassung von Art. 1 Abs. 1 EuZVO und Erwägungsgrund 7 zum

Ausdruck (vgl. hierzu Gottwald MDR 2022, 1185, 1186¸Knöfel, RIW 2021, 473,

475). Erwägungsgrund 7 statuiert, dass dann, „wenn ein Empfänger keine be-

kannte Zustelladresse im Forummitgliedstaat, aber eine oder mehrere be-

kannte Zustelladresse in einem oder mehreren anderen Mitgliedstaaten hat,

[…] das Schriftstück dem betreffenden anderen Mitgliedstaat zwecks Zustellung

gemäß dieser Verordnung übermittelt werden [sollte und] „diese Situation […]

nicht als eine inländische Zustellung im Forummitgliedstaat ausgelegt werden

sollte]. Insbesondere sollte die Zustellung des Schriftstücks an den Empfänger nicht durch eine Methode der fiktiven Zustellung - wie beispielsweise eine Zustellung durch Anschlag an der Gerichtstafel oder durch Aufbewahrung des Schriftstücks im Gerichtsakt - erfolgen.

Hierin liegt ansonsten nach dem Europäischen Gerichtshof zugleich ein Verstoß gegen Art 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und gegen Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Andernfalls, so der EuGH, stünde es im Belieben der Mitgliedstaaten zu entscheiden, in welchen Fällen die Notwendigkeit einer Zustellung auf der Grundlage der Verordnung besteht, was eine unerwünschte uneinheitliche Anwendung der Verordnung zur Folge hätte. Ist dies den Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung des EuGH mit Blick auf ihr nationales Verfahrensrecht verwehrt, solche Wirkungen vorzusehen, kann für das EPG als gemeinsames Gericht der Mitgliedstaaten nichts anderes gelten. Andernfalls würde durch die Verfahrensordnung ein gegen Europarecht verstoßendes Regime angeordnet. Daher ist eine solche Auslegung auszuschließen.

cc. Weiterhin verbietet sich eine solche Auslegung auch vor dem Hintergrund von Art. 42 TRIPS, der gleichfalls als prozessuale Mindestgarantie das Recht des Beklagten statuiert, schriftlich über den Verletzungsvorwurf in hinreichender Weise rechtzeitig unterrichtet zu werden.

dd. Dieses Recht ist in den Mitgliedstaaten zudem verfassungsrechtlich abgesichert und gehört insoweit zum verfassungsrechtlich verbürgten Mindestgehalt fundamentaler Verfahrensgarantien (für Deutschland mit Blick auf den vorliegend auch geltend gemachten deutschen Teil des EP: Bundesverfassungsgericht NJW 1988, 2361 – Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 des deutschen Grundgesetzes bei Zustellungsfiktion ohne vorherigen möglichen Versuch der Zustellung). Hierzu hat das Gericht sicherzustellen und zu überwachen, dass der betroffene Verfahrensbeteiligte in den Besitz des Schriftstücks gelangt ist (vgl. nur BVerfG NJW 1974, 133; 1976, 1837, NJW 2006, 2248). Im Interesse der hierfür in besonderem Maße erforderlichen Rechtssicherheit haben die Zustellungsvorschriften notwendigerweise formalen Charakter (vgl. stellvertretend für das deutsche Verfassungs- und Verfahrensrecht: BGH NJW 2011, 2440 Rn. 14). Es entspricht daher auch insoweit allgemeiner Meinung, dass fiktive Zustellungen gegenüber anderen möglichen Zustellungsformen subsidiär sind (BVerfG NJW 1988, 2361, Hess NJW 2001, 15, 18; Fahrbach/Schiener IWRZ 2017, 16, 17).

TENOR DER ANORDNUNG:

  1. Die Anträge der Klägerin vom 22. November 2023 anzuordnen, dass die Zustellung der Klageschrift für die Beklagten zu 1, zu 2, zu 7 und zu 8 an die Geschäftsadresse der Beklagten zu 3 jeweils eine rechtsgültige Zustellung an die Beklagten zu 1, zu 2, zu 7 und zu 8 darstellt, werden zurückgewiesen.

2.

Der Klägerin wird aufgegeben, die für die Zustellung an die Beklagten zu 1, zu 2, zu 7 und zu 8 gemäß dem Haager Zustellungsübereinkommen erforderlichen Dokumente, insbesondere die erforderlichen Übersetzungen in die chinesische Sprache, der Lokalkammer Mannheim zu übermitteln.

NAME UND UNTERSCHRIFT:

Dr. Peter Tochtermann

Vorsitzender Richter und Berichterstatter

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