Unified Patent Court

Aktenzeichen:

Einheitliches Patentgericht

UPC_CoA_335/2023

Juridiction unifiee du brevet

App_576355/2023

Anordnung

des Berufungsgerichts des Einheitlichen Patentgerichts

erlassen am 26.02.2024

in dem Verfahren auf Erlass einstweiliger Maßnahmen

betreffend das EP 4 108 782

LEITSÄTZE

  1. Die Einhaltung der in Regel 206.2(b) bis (e) VerfO aufgestellten Anforderungen betrifft die Begründetheit des Antrags auf einstweilige Maßnahmen, dessen Prüfung dem Richter obliegt und von diesem bei den Anordnungen nach den Regeln 209, 211 und 212 VerfO zu berücksichtigen ist.
  2. Der Patentanspruch ist nicht nur der Ausgangspunkt, sondern die maßgebliche Grundlage für die Bestimmung des Schutzbereichs eines europäischen Patents nach Art. 69 EPÜ in Verbindung mit dem Protokoll über die Auslegung von Art. 69 EPÜ.

Für die Auslegung eines Patentanspruchs kommt es nicht allein auf seinen genauen Wortlaut im sprachlichen Sinne an. Vielmehr sind die Beschreibung und die Zeichnungen als Erläuterungshilfen für die Auslegung des Patentanspruchs stets mit heranzuziehen und nicht nur zur Behebung etwaiger Unklarheiten im Patentanspruch anzuwenden.

Der Patentanspruch dient nicht lediglich als Richtlinie, sondern sein Gegenstand erstreckt sich auch auf das, was sich nach Prüfung der Beschreibung und der Zeichnungen als Schutzbegehren des Patentinhabers darstellt.

Der Patentanspruch ist aus Sicht der Fachperson auszulegen.

Bei der Anwendung dieser Grundsätze soll ein angemessener Schutz für den Patentinhaber mit ausreichender Rechtssicherheit für Dritte verbunden werden.

Diese Grundsätze für die Auslegung eines Patentanspruchs gelten gleichermaßen für die Beurteilung der Verletzung und des Rechtsbestands eines europäischen Patents.

3. Eine ausreichend sichere Überzeugung nach Regel 211.2 VerfO in Verbindung mit Art. 62(4) EPGÜ

(vgl. auch Art. 9(3) Richtlinie 2004/48/EG) erfordert, dass es das Gericht zumindest für überwiegend wahrscheinlich hält, dass der Antragsteller zur Einleitung eines Verfahrens berechtigt ist und das Patent verletzt wird. An einer ausreichend sicheren Überzeugung fehlt es, wenn es das Gericht für überwiegend wahrscheinlich ansieht, dass das Patent nicht gültig ist.

Die Darlegungs- und Beweislast für Tatsachen, aus denen sich die Berechtigung zur Verfahrenseinleitung und die Verletzung oder drohende Verletzung des Patents ergeben sollen, so wie für alle anderen Umstände, die den Antrag des Antragstellers stützen sollen, liegt beim Antragsteller, während, sofern Gegenstand der Entscheidung nicht die Anordnung von Maßnahmen ohne Anhörung des Antragsgegners gemäß Art. 60(5) in Verbindung mit Art. 62(5) EPGÜ ist, die Darlegungs- und Beweislast für Tatsachen betreffend die fehlende Gültigkeit des Patents und andere Umstände, die den Standpunkt des Antragsgegners stützen, beim Antragsgegner liegt.

SCHLAGWÖRTER:

Berufung, Antrag auf einstweilige Maßnahmen, Beweislast, Auslegung des Patentanspruchs, Prüfung formaler Voraussetzungen, Schutzbereich, Verletzung, erfinderische Tätigkeit, Neuheit, Fachperson, einstweilige Verfügung.

ANTRAGSGEGNERINNEN und BERUFUNGSKLÄGERINNEN

  1. NanoString Technologies Inc.

530 Fairview Ave N - 98109 - Seatle (WA) – US 2. NanoString Technologies Germany GmbH

Birketweg 31 - 80639 - München – DE 3. NanoString Technologies Netherlands B.V.

Paasheuvelweg 25 - 1105BP - Amsterdam – NL

Vertreten durch: Rechtsanwalt Oliver Jan Jüngst, Bird & Bird LLP

ANTRAGSTELLER und BERUFUNGSBEKLAGTE

  1. 10x Genomics, Inc.

6230 Stoneridge Mall Road - 94588-3260 - Pleasanton (CA) – US 2. President and Fellows of Harvard College

Suite 727E, 1350 Massachusets Avenue - 02138 - Cambridge (MA) – US

Vertreten durch: Rechtsanwalt Prof. Dr. Tilman Müller-Stoy, Bardehle Pagenberg Partnerschaft mbB

VERFÜGUNGSPATENT

EP 4108782

SPRUCHKÖRPER UND ENTSCHEIDENDE RICHTER

Erster Spruchkörper

  • Klaus Grabinski, Präsident des Berufungsgerichts und Berichterstater
  • Françoise Barutel, rechtlich qualifizierte Richterin
  • Peter Blok, rechtlich qualifizierter Richter
  • Rainer Friedrich, technisch qualifizierter Richter
  • Cornelis Schüller, technisch qualifizierter Richter

VERFAHRENSSPRACHE

Deutsch

BEANSTANDETE ANORDNUNG

Anordnung („Entscheidung und Anordnungen“) des Gerichts erster Instanz (Lokalkammer München) vom 19.09.2023 – UPC CFI 2/2023

MÜNDLICHE VERHANDLUNG AM :

18.12.2023

BESTAND UND ANTRÄGE

  1. Die Antragsteller und Berufungsbeklagten (nachfolgend: Antragsteller) nehmen die Antragsgegnerinnen und Berufungsklägerinnen (nachfolgend: Antragsgegnerinnen) im Wege des einstweiligen Rechtschutzes wegen unmitelbarer und mitelbarer Verletzung des europäischen Patents mit einheitlicher Wirkung (Einheitspatent) 4 108 782 (Verfügungspatent) auf Unterlassung in Anspruch.

Das Verfügungspatent wurde am 27. April 2022 als Teilanmeldung der Anmeldung EP 18173059.9 angemeldet, die ihrerseits als Teilanmeldung zur Anmeldung EP 12860433.7 (Stammanmeldung) angemeldet worden war. Die Stammanmeldung wurde am 21. Dezember 2012 als internationale Anmeldung (PCT/US2012/071398) eingereicht und hat zur Erteilung des europäischen Patents 2 794 928 (Stammpatent) geführt. Das Verfügungspatent nimmt eine US-amerikanische Priorität vom 22. Dezember 2011 in Anspruch. Der Hinweis auf die Erteilung des Verfügungspatents wurde am 7. Juni 2023 veröffentlicht.

Das Verfügungspatent betri� Zusammensetzungen und Verfahren zur Analytdetek�on. Sein Anspruch 1 lautet in der Verfahrenssprache gemäß Art. 70(1) EPÜ wie folgt:

A method for detec�ng a plurality of analytes in a cell or �ssue sample, comprising:

(a) moun�ng the cell or �ssue sample on a solid support;

(b) contac�ng the cell or �ssue sample with a composi�on comprising a plurality of detec- �on reagents, the plurality of detec�on reagents comprising a plurality of subpopula�ons of detec�on reagents;

(c) incuba�ng the cell or �ssue sample together with the plurality of detec�on reagents for a sufficient amount of �me to allow binding of the plurality of detec�on reagents to the analytes; wherein each subpopula�on of the plurality of detec�on reagents targets a different analyte,

wherein each of the plurality of detec�on reagents comprises: a probe reagent targe�ng an analyte of the plurality of analytes and one or a plurality of pre-determined subse- quences, wherein the probe reagent and the one or the plurality of pre-determined sub- sequences are conjugated together;

Detection Methodology

(d) detecting in a temporally-sequential manner the one or the plurality of pre-determined subsequences, wherein the detecting comprises:

  1. hybridizing a set of decoder probes with a subsequence of the detection reagents, wherein the set of decoder probes comprises a plurality of subpopulations of decoder probes and wherein each subpopulation of the decoder probes comprises a detectable label, each detectable label producing a signal signature;
  2. detecting the signal signature produced by the hybridization of the set of decoder probes;
  3. removing the signal signature; and
  4. repeating (i) and (iii) using a different set of decoder probes to detect other subsequences of the detection reagents, thereby producing a temporal order of the signal signatures unique for each subpopulation of the plurality of detection reagents;

(e) using the temporal order of the signal signatures corresponding to the one or the plurality of the pre-determined subsequences of the detection reagent to identify a subpopulation of the detection reagents, thereby detecting the plurality of analytes in the cell or tissue sample.

Funding and Licensing Information

Die der Stammanmeldung zugrundeliegende Forschung wurde mit öffentlichen Mitteln des US-amerikanischen National Institute of Health (NIH) finanziell unterstützt. Der Förderung liegt ein Vertrag zwischen der Antragstellerin zu 1 und dem NIH zugrunde. Aus dem Vertrag ergeben sich auch Verpflichtungen der Antragsteller zu 2, deren genauer Inhalt zwischen den Parteien streitig ist.

Die Antragsteller zu 2 sind als Inhaber des Verfügungspatents eingetragen. Laut vertraglicher Vereinbarung haben diese der Antragstellerin zu 1 mit Wirkung zum 14. Februar 2023 eine ausschließliche Lizenz am deutschen Teil des Stammpatents und jedem Teilpatent („any divisional patent“) desselben und mit Wirkung zum 30. Mai 2023 eine ausschließliche Lizenz an allen nationalen Teilen des Stammpatents außer dem deutschen Teil und jedem Teilpatent derselben („any divisional patent“) erteilt.

Die Antragsgegnerin zu 1 ist ein amerikanisches Unternehmen. Sie ist die Muttergesellschaft einer Gruppe von Unternehmen, die unter der Bezeichnung „NanoString“ auftreten.

tragsgegnerin zu 2 ist die deutsche Vertriebs- und Marke�nggesellscha� in dieser Unterneh- mensgruppe. Die Antragsgegnerin zu 3 unterhält die europäische Zentrale der Unternehmens- gruppe in Amsterdam.

Die angegriffene Ausführungsform 1

(„CosMx Spa�al Molecular Imager“, abgekürzt „CosMx SMI“) ermöglicht eine hochempfindliche, subzelluläre Bildgebung einer Vielzahl von RNAs oder Proteinen direkt aus einzelnen Zellen in morphologisch intakten Gewebeproben. Es kön- nen Proben, insbesondere biologische Proben wie zum Beispiel fixierte Zellen und Gewebe- schnitte, automa�siert auf das Vorhandensein bes�mmter Analyten, nämlich RNA und Prote- ine, untersucht werden. Die angegriffene Ausführungsform 1 wird seit Dezember 2022 auf dem Markt angeboten. Sie wird auch im sogenannten CX-Lab der Antragsgegnerinnen in Ams- terdam angewendet, wobei die Auswertung der ermitelten Daten über eine Cloud auf Servern erfolgt, die nicht auf dem Gebiet der EPG-Vertragsmitgliedstaaten betrieben werden.

Die angegriffene Ausführungsform 2

ist ein Nachweisreagenz, das nur für den Nachweis von RNA verwendet werden kann. Die angegriffene Ausführungsform 2 wird in einem Kit als soge- nanntes „CosMx RNA Panel“ in einer Standardvariante („off-the-shelf RNA Add-On“) sowie nach Kundenspezifika�on („Custom RNA Add-On Probes“) vertrieben.

Die angegriffene Ausführungsform 3

ist eine Sonde, die als Sekundärsonde an die Primärsonde bindet, die bereits an ihren Analyten (RNA oder Protein) gebunden hat; die angegriffene Aus- führungsform 3 wird in sogenannten „CosMx RNA Imaging Trays“ vertrieben. Diese Produkte sind für den Nachweis von 100 RNAs (100-plex) oder 1000 RNAs (1000-plex), jeweils für 2 oder 4 Objekträger erhältlich. Die angegriffene Ausführungsform 3 kann sowohl für den Nachweis von RNA als auch für den Nachweis von Proteinen verwendet werden.

Die Antragsgegnerinnen bieten die angegriffenen Ausführungsformen einzeln oder kombiniert an.

Die Antragsgegnerseite forderte die Antragsteller zu 2 wiederholt auf, ihr im Hinblick auf das Verfügungspatent ein Lizenzangebot zu angemessenen Bedingungen zu unterbreiten.

Die Antragsgegnerin zu 1 hat Einspruch gegen die Erteilung des Verfügungspatents beim Euro- päischen Patentamt eingelegt.

Die Antragsteller haben am 1. Juni 2023 beim Gericht erster Instanz (Lokalkammer München) die Anordnung einer einstweiligen Verfügung wegen unmitelbarer und mitelbarer Verletzung des Verfügungspatents beantragt. Zudem haben die Antragsteller die Anordnung eines Zwangsgeldes im Falle jeder Zuwiderhandlung gegen die von ihr beantragten gerichtlichen Anordnungen beantragt.

Für den Antrag haben die Antragsteller zunächst eine Fassung gewählt, die wörtlich Anspruch 1 des Verfügungspatents entsprach und sich räumlich „auf die teilnehmenden Mitgliedsstaaten“ bezog. Im Hinblick auf den Einspruch der Antragsgegnerin zu 1 haben die Antragsteller ihren Antrag später dahin angepasst, dass die Vertragsstaaten des EPG-Übereinkommens namentlich genannt werden und die Worte „eine oder“ vor „eine Vielzahl von vorbestimmten Teilsequenzen“ gestrichen wurden.

Auf den Hinweis des Gerichts erster Instanz in der mündlichen Verhandlung, dass die Frage der Gültigkeit des Verfügungspatents nach der Vorberatung offen sei und im Parallelverfahren betreffend das Stammpatent die Anordnungsanträge in einer den Patentanspruch des Stamm-patents einschränkenden Fassung gestellt worden seien, haben die Antragsteller ihren Haupt-antrag um einen Hilfsantrag ergänzt.

Die Antragsgegnerinnen haben beantragt, den Haupt- und Hilfsantrag der Antragsteller zurückzuweisen sowie hilfsweise, ihr die Fortsetzung der vermeintlichen Verletzungshandlungen gegen die Beibringung einer Sicherheitsleistung zu erlauben, und höchst hilfsweise den Erlass einstweiliger Maßnahmen von der Beibringung einer Sicherheitsleistung durch die Antragsteller abhängig zu machen.

2.

Das Gericht erster Instanz hat den Hauptantrag der Antragsteller mit Anordnung („Entscheidung und Anordnungen“) vom 19. September 2023 (nachfolgend: Anordnung) als zulässig und weitgehend begründet angesehen und in der Begründung im Wesentlichen folgendes ausgeführt.

Die Lokalkammer München des Einheitlichen Patentgerichts sei für die Entscheidung über den Antrag auf Anordnung einstweiliger Maßnahmen zuständig, da die angegriffenen Ausführungsformen auch in Deutschland angeboten worden seien.

Der Antrag sei zulässig. Die Antragsschriß erfülle die Anforderungen der Regeln 206.2(a), (c), (d) und (e) Verfahrensordnung des Einheitlichen Patentgerichts (VerfO). Insoweit komme es nicht auf eine inhaltliche, sondern auf eine formale Prüfung an. Insoweit sei das Vorbringen in der Antragsschriß hinreichend.

Die Antragsteller seien antragsberechtigt. Die Antragsteller zu 2 seien eingetragene Inhaber des Streitpatents und die Antragstellerin zu 1 sei zumindest als Inhaberin einer nicht ausschließlichen Lizenz nach Art. 47(3) Übereinkommen über ein Einheitliches Patentgericht (EPGÜ) antragsberechtigt.

Nach dem Wortlaut von Patentanspruch 1 des Verfügungspatents sei es ausgeschlossen, einen aus einer Zelle isolierten und amplifizierten Teil der genomischen DNA als anspruchsgemäße Zell- oder Gewebeprobe zu qualifizieren. Für eine Teilpopulation der Nachweisreagenzien sei es nicht erforderlich, dass das Sondenreagenz identisch sei. Entscheidend sei allein, dass dieses auf denselben Analyten abziele. Anspruch 1 setze ein Fortbestehen der durch Inkubieren der Zell- oder Gewebeprobe mit den Nachweisreagenzien hergestellten Bindung zwischen Analyt und Nachweisreagenz während des zweiten Verfahrensabschnitts voraus. Gegenstand der Wiederholung der für den Nachweis der Teilsequenzen in einer zeitlich sequenziellen Weise durchzuführenden Schritte sei neben den Schritten (i) und (iii) auch der Schritt (ii), da die angestrebte Verwendung der zeitlichen Reihenfolge der Signalsignaturen ohne Wiederholung des in Schritt (ii) vorgesehenen Nachweises der Signalsignatur nicht mehr möglich wäre.

Vor dem Hintergrund dieser Auslegung könne keine unzulässige Erweiterung des Inhalts der Ursprungsanmeldung darin liegen, dass Schritt (ii) im Patentanspruch nicht mehr vorgesehen sei.

Auch sei das Gericht der Überzeugung, dass der Gegenstand von Patentanspruch 1 neu sei. Gegenstand des Nachweises der D6 (Jenny Göransson et al., „A single molecule array for digital targeted molecular analyses“, Nucleic Acids Research, 2009, Vol. 37, No. 1, e7) seien keine Analyten von Zell- oder Gewebeproben, sondern sogenannte einzelne amplifizierte Moleküle (ASM), die aus „padlock or selector probes“ gewonnen würden. Zudem werde bei D6 die Bindung zwischen Analyt und Reagenz jeweils („after each imaging“) gelöst.

Es sei auch nicht zu erwarten, dass der Gegenstand des Patentanspruchs 1 wegen fehlender erfinderischer Tätigkeit für nichtig erklärt werde. Es sei nicht dargelegt, welchen Anlass es für die Fachperson gegeben habe, von der in D8 (Dzifa Y. Duose et al., „Multiplexed and Reiterative Fluorescence Labeling via DNA Circuitry“, Bioconjugate Chem 2010, 21, 2327-2331) gelehrten Lösung für eine In-situ-Analyse für Zell- oder Gewebeproben abzuweichen und stattdessen eine grundlegend andere Methode aus einem grundlegend anderen Kontext anzuwenden, um mehr Analyten nachweisen zu können, wie es in der D6 gelehrt werde. D6 selbst gebe der Fachperson keine Veranlassung, die für einen Array mit ASMs offenbarte Kodierungs- und Dekodierungsmethode auf Zell- oder Gewebeproben, die auf einem festen Träger angebracht seien, zu übertragen.

Das Gericht sei auch überzeugt, dass eine Fachperson die Erfindung habe ausführen können und insbesondere in der Lage gewesen sei, eine angemessene Sequenzlänge für die Umsetzung des patentierten Verfahrens zu wählen.

Patentanspruch 1 sei zudem mit hinreichender Sicherheit unmittelbar und mittelbar verletzt. Einer Verwirklichung der patentgemäßen Lehre stehe nicht entgegen, dass der Nachweis auf Grundlage einer zyklusbasierten Reihenfolge der Signalsignaturen und damit nicht einfach nur auf einer zeitlichen Reihenfolge erfolge. Eine Verletzung des Streitpatents sei auch nicht deshalb zu verneinen, weil die Analyse der Daten mit einer cloudbasierten Lösung außerhalb des Anwendungsbereichs des EPG-Übereinkommens erfolge.

Die Anordnung einstweiliger Maßnahmen sei notwendig. Das Interesse des Rechtsinhabers, nicht in seinen Rechten verletzt zu werden, sei höher als das Interesse des potenziellen Rechtsverletzers, sich bereits jetzt durch die Fortsetzung der Rechtsverletzung Marktanteile zu sichern, die er über einen etwaigen Lizenzabschluss später nicht mehr erlangen könne. Ein nach US-Recht bestehender Lizenzanspruch der Antragsgegnerin zu 2 sei weder auf vertraglicher noch auf kartellrechtlicher Grundlage dargelegt. Gleiches gelte hinsichtlich eines Lizenzanspruchs aufgrund europäischen Rechts entsprechend der „Huawei/ZTE“-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs.

9

Unter Berücksich­tigung und Würdigung aller Umstände des Falles und Abwägung aller Interessen der Parteien seien die beantragten Maßnahmen ohne Sicherheitsleistung anzuordnen und sei eine Fortsetzung der Verletzung gegen die Stellung von Sicherheiten nicht angemessen.

Das Gericht erster Instanz hat den Antragsgegnerinnen mit der Anordnung aufgegeben,

in den Hoheitsgebieten der Republik Österreich, des Königreichs Belgien, der Republik Bulgarien, des Königreichs Dänemark, der Republik Estland, der Republik Finnland, der Französischen Republik, der Bundesrepublik Deutschland, der Italienischen Republik, der Republik Letland, der Republik Litauen, des Großherzogtums Luxemburg, der Republik Malta, des Königreichs der Niederlande, der Portugiesischen Republik, der Republik Slowenien und/oder des Königreichs Schweden, Folgendes zu unterlassen

I.

ein Verfahren zum Nachweisen einer Vielzahl von Analyten in einer Zell- oder Gewebeprobe, umfassend

  1. Anbringen (Moun­ting) der Zell- oder Gewebeprobe auf einem festen Träger;
  2. Kontak­teren der Zell- oder Gewebeprobe mit einer Zusammensetzung, die eine Vielzahl von Nachweisreagenzien umfasst, wobei die Vielzahl der Nachweisreagenzien eine Vielzahl von Teilpopulationen der Nachweisreagenzien umfasst;
  3. Inkubieren der Zell- oder Gewebeprobe zusammen mit der Vielzahl von Nachweisreagenzien für eine ausreichende Zeitdauer, um Binden der Vielzahl von Nachweisreagenzien an die Analyten zu ermöglichen; wobei
  4. jede Teilpopulation der Vielzahl von Nachweisreagenzien auf einen unterschiedlichen Analyten zielt, wobei
  5. jedes der Vielzahl von Nachweisreagenzien umfasst: ein Sondenreagenz, das auf einen Analyten der Vielzahl von Analyten zielt, und
  6. eine Vielzahl vorbestimmter Teilsequenzen, wobei das Sondenreagenz und die Vielzahl der vorbestimmten Teilsequenzen miteinander konjugiert sind;
  7. Nachweisen der Vielzahl von vorbestimmten Teilsequenzen in einer zeitlich sequenziellen Weise, wobei das Nachweisen umfasst:

Aktuelle Verfahren und Vorrichtungen zum Nachweisen von RNAs

I. Verfahren

(i) Hybridisieren eines Satzes von Decodersonden mit einer Teilsequenz der Nachweisreagenzien, wobei der Satz von Decodersonden eine Vielzahl von Teilpopulationen von Decodersonden umfasst, und wobei jede Teilpopulation der Decodersonden eine nachweisbare Markierung umfasst, wobei jede nachweisbare Markierung eine Signalsignatur produziert;

(ii) Nachweisen der durch die Hybridisierung des Satzes von Decodersonden produzierten Signalsignatur;

(iii) Entfernen der Signalsignatur; und

(iv) Wiederholen von (i) und (iii) unter Verwendung eines unterschiedlichen Satzes von Decodersonden, um andere Teilsequenzen der Nachweisreagenzien nachzuweisen, wodurch eine zeitliche Reihenfolge der Signalsignaturen produziert wird, die für jede Teilpopulation von der Vielzahl von Nachweisreagenzien eindeutig ist; und

(e) Verwenden der zeitlichen Reihenfolge der Signalsignaturen, die der Vielzahl der vorbestimmten Teilsequenzen des Nachweisreagenzes entspricht, zum Identifizieren einer Teilpopulation der Nachweisreagenzien, wodurch die Vielzahl von Analyten in der Zell- oder Gewebeprobe nachgewiesen wird,

im Hoheitsgebiet eines oder mehrerer der unter A. genannten Staaten anzuwenden oder zur Anwendung im Hoheitsgebiet eines oder mehrerer der unter A. genannten Staaten anzubieten;

(unmittelbare Verletzung von Anspruch 1 des EP 4 108 782)

II. Vorrichtungen

Vorrichtungen, die dazu geeignet sind, ein Verfahren zum Nachweisen einer Vielzahl von RNAs in einer Zell- oder Gewebeprobe durchzuführen, umfassend

(a) Anbringen (Mounting) der Zell- oder Gewebeprobe auf einem festen Träger;

(b) Kontaktieren der Zell- oder Gewebeprobe mit einer Zusammensetzung, die eine Vielzahl von Nachweisreagenzien umfasst, wobei die Vielzahl der Nachweisreagenzien eine Vielzahl von Teilpopulationen der Nachweisreagenzien umfasst;

(c)

Inkubieren der Zell- oder Gewebeprobe zusammen mit der Vielzahl von Nachweisreagenzien für eine ausreichende Zeitdauer, um Binden der Vielzahl von Nachweisreagenzien an die RNAs zu ermöglichen; wobei

jede Teilpopulation der Vielzahl von Nachweisreagenzien auf eine unterschiedliche RNA zielt, wobei

jedes der Vielzahl von Nachweisreagenzien umfasst: ein Sondenreagenz, das auf eine RNA der Vielzahl von RNAs zielt, und

eine Vielzahl vorbestimmter Teilsequenzen, wobei das Sondenreagenz und die Vielzahl der vorbestimmten Teilsequenzen miteinander konjugiert sind;

(d)

Nachweisen der Vielzahl von vorbestimmten Teilsequenzen in einer zeitlich sequenziellen Weise, wobei das Nachweisen umfasst:

  1. Hybridisieren eines Satzes von Decodersonden mit einer Teilsequenz der Nachweisreagenzien, wobei der Satz von Decodersonden eine Vielzahl von Teilpopulationen von Decodersonden umfasst, und wobei jede Teilpopulation der Decodersonden eine nachweisbare Markierung umfasst, wobei jede nachweisbare Markierung eine Signal-signatur produziert;
  2. Nachweisen der durch die Hybridisierung des Satzes von Decodersonden produzierten Signalsignatur;
  3. Entfernen der Signalsignatur; und
  4. Wiederholen von (i) und (iii) unter Verwendung eines unterschiedlichen Satzes von Decodersonden, um andere Teilsequenzen der Nachweisreagenzien nachzuweisen, wodurch eine zeitliche Reihenfolge der Signalsignaturen produziert wird, die für jede Teilpopulation von der Vielzahl von Nachweisreagenzien eindeutig ist;

(e)

Verwenden der zeitlichen Reihenfolge der Signalsignaturen, die der Vielzahl der vorbestimmten Teilsequenzen des Nachweisreagenzes entspricht, zum Identifizieren einer Teilpopulation der Nachweisreagenzien, wodurch die Vielzahl von RNAs in der Zell- oder Gewebeprobe nachgewiesen wird,

12

im Hoheitsgebiet eines der unter A. genannten Staaten zur Benutzung des Verfah-

rens im Hoheitsgebiet eines der unter A. genannten Staaten oder in den Hoheits-

gebieten mehrerer dieser Staaten zur Anwendung im Hoheitsgebiet eines oder

mehrerer der unter A. genannten Staaten anzubieten und/oder zu liefern

ohne

  1. auf jedem Angebot, auf der ersten Seite der Bedienungsanleitung, in den

Lieferpapieren sowie auf der Verpackung ausdrücklich, unübersehbar und

blickfangmäßig herausgestellt darauf hinzuweisen, dass die Vorrichtungen

nicht ohne Zustimmung der Antragstellerin zu 2) als Inhaberin des EP 4 108

782 zum Nachweis von RNA in einem Verfahren gemäß Ziffer A.I. verwendet

werden dürfen und ohne Zustimmung der Antragstellerin zu 2) ein Verwen-

den zum Nachweis von RNA zu unterlassen ist, 2. den Abnehmern unter Auferlegung einer an die Antragstellerin zu 2) zu zah-

lenden angemessenen, von der Antragstellerin zu 2) zu besimmenden, not-

falls von dem zuständigen Gericht zu überprüfenden Vertragsstrafe für je-

den Fall der Zuwiderhandlung die schriftliche Verpflichtung aufzuerlegen,

die Vorrichtungen nicht ohne eine vorherige Zustimmung der Antragstellerin

zu 2) für den Nachweis von RNA zu verwenden;

(mitelbare Verletzung von Anspruch 1 des EP 4 108 782)

III. Nachweisreagenzien

Nachweisreagenzien, die dazu geeignet sind, ein Verfahren zum Nachweisen einer

Vielzahl von Analyten in einer Zell- oder Gewebeprobe durchzuführen, umfassend

  1. Anbringen (Moun­ting) der Zell- oder Gewebeprobe auf einem festen Träger;
  2. Kontak­tieren der Zell- oder Gewebeprobe mit einer Zusammensetzung, die

eine Vielzahl von Nachweisreagenzien umfasst, wobei die Vielzahl der Nach-

weisreagenzien eine Vielzahl von Teilpopula­tionen der Nachweisreagenzien

umfasst; 3. Inkubieren der Zell- oder Gewebeprobe zusammen mit der Vielzahl von

Nachweisreagenzien für eine ausreichende Zeitdauer, um Binden der Viel-

zahl von Nachweisreagenzien an die Analyten zu ermöglichen; wobei

jede Teilpopulation der Vielzahl von Nachweisreagenzien auf einen unterschiedlichen Analyten zielt, wobei

jedes der Vielzahl von Nachweisreagenzien umfasst: ein Sondenreagenz, das auf einen Analyten der Vielzahl von Analyten zielt, und

eine Vielzahl vorbestimmter Teilsequenzen, wobei das Sondenreagenz und die Vielzahl der vorbestimmten Teilsequenzen miteinander konjugiert sind;

(d) Nachweisen der Vielzahl von vorbestimmten Teilsequenzen in einer zeitlich sequenziellen Weise, wobei das Nachweisen umfasst:

  1. Hybridisieren eines Satzes von Decodersonden mit einer Teilsequenz der Nachweisreagenzien, wobei der Satz von Decodersonden eine Vielzahl von Teilpopulationen von Decodersonden umfasst, und wobei jede Teilpopulation der Decodersonden eine nachweisbare Markierung umfasst, wobei jede nachweisbare Markierung eine Signalsignatur produziert;
  2. Nachweisen der durch die Hybridisierung des Satzes von Decodersonden produzierten Signalsignatur;
  3. Entfernen der Signalsignatur; und
  4. Wiederholen von (i) und (iii) unter Verwendung eines unterschiedlichen Satzes von Decodersonden, um andere Teilsequenzen der Nachweisreagenzien nachzuweisen, wodurch eine zeitliche Reihenfolge der Signalsignaturen produziert wird, die für jede Teilpopulation von der Vielzahl von Nachweisreagenzien eindeutig ist; und

(e) Verwenden der zeitlichen Reihenfolge der Signalsignaturen, die der Vielzahl der vorbestimmten Teilsequenzen des Nachweisreagenzes entspricht, zum Identifizieren einer Teilpopulation der Nachweisreagenzien, wodurch die Vielzahl von Analyten in der Zell- oder Gewebeprobe nachgewiesen wird,

14

im Hoheitsgebiet eines der unter A. genannten Staaten zur Benutzung des Verfah-

rens im Hoheitsgebiet eines der unter A. genannten Staaten oder in den Hoheits-

gebieten mehrerer dieser Staaten zur Anwendung im Hoheitsgebiet eines oder

mehrerer der unter A. genannten Staaten anzubieten und/oder zu liefern;

(mitelbare Verletzung von Anspruch 1 des EP 4 108 782)

IV. Decodersonden

Decodersonden, die dazu geeignet sind, ein Verfahren zum Nachweisen einer Viel-

zahl von RNAs in einer Zell- oder Gewebeprobe durchzuführen, umfassend

  1. Anbringen (Moun�ng) der Zell- oder Gewebeprobe auf einem festen Träger;
  2. Kontak�eren der Zell- oder Gewebeprobe mit einer Zusammensetzung, die eine Vielzahl von Nachweisreagenzien umfasst, wobei die Vielzahl der Nach- weisreagenzien eine Vielzahl von Teilpopula�onen der Nachweisreagenzien umfasst;
  3. Inkubieren der Zell- oder Gewebeprobe zusammen mit der Vielzahl von Nachweisreagenzien für eine ausreichende Zeitdauer, um Binden der Viel- zahl von Nachweisreagenzien an die RNAs zu ermöglichen; wobei
  4. jede Teilpopula�on der Vielzahl von Nachweisreagenzien auf eine unter- schiedliche RNA zielt, wobei
  5. jedes der Vielzahl von Nachweisreagenzien umfasst: ein Sondenreagenz, das auf eine RNA der Vielzahl von RNAs zielt, und
  6. eine Vielzahl vorbes�mmter Teilsequenzen, wobei das Sondenreagenz und die Vielzahl der vorbes�mmten Teilsequenzen miteinander konjugiert sind;
  7. Nachweisen der Vielzahl von vorbes�mmten Teilsequenzen in einer zeitlich sequenziellen Weise, wobei das Nachweisen umfasst:

(ii)

Nachweisen der durch die Hybridisierung des Satzes von Decodersonden produzierten Signalsignatur;

(iii)

En�ernen der Signalsignatur; und

(iv)

Wiederholen von (i) und (iii) unter Verwendung eines unterschiedli- chen Satzes von Decodersonden, um andere Teilsequenzen der Nachweisreagenzien nachzuweisen, wodurch eine zeitliche Reihen- folge der Signalsignaturen produziert wird, die für jede Teilpopula- �on von der Vielzahl von Nachweisreagenzien eindeu�g ist; und

(e)

Verwenden der zeitlichen Reihenfolge der Signalsignaturen, die der Vielzahl der vorbes�mmten Teilsequenzen des Nachweisreagenzes entspricht, zum Iden�fizieren einer Teilpopula�on der Nachweisreagenzien, wodurch die Vielzahl von RNAs in der Zell- oder Gewebeprobe nachgewiesen wird,

im Hoheitsgebiet eines der unter A. genannten Staaten zur Benutzung des Verfah- rens im Hoheitsgebiet eines der unter A. genannten Staaten oder in den Hoheits- gebieten mehrerer dieser Staaten im Hoheitsgebiet eines oder mehrerer der unter A. genannten Staaten anzubieten und/oder zu liefern,

ohne

(1)

auf jedem Angebot, auf der ersten Seite der Bedienungsanleitung, in den Lieferpapieren sowie auf der Verpackung ausdrücklich, unübersehbar und blickfangmäßig herausgestellt darauf hinzuweisen, dass die Decodersonden nicht ohne Zus�mmung der Antragstellerin zu 2) als Inhaberin des EP 4 108 782 zum Nachweis von RNA in einem Verfahren gemäß Ziffer A.I. verwendet werden dürfen und ohne Zus�mmung der Antragstellerin zu 2) ein Verwen- den zum Nachweis von RNA zu unterlassen ist,

(2)

den Abnehmern unter Auferlegung einer an die Antragstellerin zu 2) zu zah- lenden angemessenen, von der Antragstellerin zu 2) zu bes�mmenden, not- falls von dem zuständigen Gericht zu überprüfenden Vertragsstrafe für je- den Fall der Zuwiderhandlung die schri�ftliche Verpflichtung aufzuerlegen, die Decodersonden nicht ohne eine vorherige Zus�mmung der Antragstelle- rin zu 2) für den Nachweis von RNA zu verwenden

16

(mitelbare Verletzung von Anspruch 1 des EP 4 108 782).

Das Gericht erster Instanz hat zudem angeordnet, dass die jeweiligen Antragsgegner für jede einzelne Zuwiderhandlung gegen diese Anordnungen ein (ggf. wiederholtes) Zwangsgeld in Höhe von bis zu 250.000 EUR an das Gericht zu zahlen haben.

Die übrigen Anträge der Antragsteller sowie die von den Antragsgegnerinnen gestellten Anträge hat das Gericht erster Instanz abgewiesen.

3.

Die Antragsgegnerinnen haben gegen die Anordnung des Gerichts erster Instanz Berufung eingelegt und diese mit gesondertem Schriftsatz im Wesentlichen wie folgt begründet:

  • Die Lokalkammer habe rechtsfehlerhaft ihre Zuständigkeit angenommen.
  • Die Anordnung des Gerichts erster Instanz sei rechtsfehlerhaft, weil die Antragsteller gegen zwingende Verfahrensvorschriften verstoßen hätten.
  • Das Gericht erster Instanz habe das Merkmal einer „Zell- oder Gewebeprobe“ des Patentspruchs 1 fehlerhaft eng ausgelegt.
  • Fehlerhaft sei auch das Verständnis, dass die Nachweisreagenzien einer Teilpopulation nicht insgesamt identisch sein müssten, sondern vielmehr eine Übereinstimmung der vorbestimmten Teilsequenzen ausreichend sei.
  • Patentanspruch 1 erfordere weiterhin nicht, dass die Nachweisreagenzien während des gesamten Verfahrens an den entsprechenden Analyten gebunden bleiben müssten.

Entsprechend der Auslegung fehle es an einer Verletzung durch das angegriffene Verfahren bereits deshalb, weil zur Identifizierung jeweils mehrere Teilpopulationen von Nachweisreagenzien pro Analyten eingesetzt würden. Zudem werde entgegen dem Wortlaut von Patentspruch 1 in jeder Hybridisierungsrunde ein Detektionsschritt (ii) durchgeführt und erfolge die Identifizierung der Nachweisreagenzien anstelle der anspruchsgemäß vorgesehenen bloßen zeitlichen Reihenfolge zyklusbasiert. Die Auswertung der im Labor der Zentrale in Amsterdam durch Anwendung des Nachweisverfahrens ermittelten Daten erfolge auf einem Server außerhalb des Territoriums der EPG-Vertragsstaaten.

Das Gericht erster Instanz habe fehlerhaft angenommen, dass das Verfügungspatent höchstwahrscheinlich rechtsbeständig sei. Sein Gegenstand sei nicht neu gegenüber D6. D6 offenbare, dass aus einer Blutprobe genomische DNA isoliert und mittels RCA (rolling circle amplification) zu ASMs (amplified single molecules) modifiziert würden. Dadurch gehe der Ursprung als Zell- oder Gewebeprobe im Sinne von Patentanspruch 1 nicht verloren. Zudem schließe es Patentanspruch 1 nicht aus, dass nach jeder Färbung die Signalsignatur durch Waschen entfernt werde.

Der Gegenstand von Patentanspruch 1 beruhe jedenfalls nicht auf erfinderischer Tätigkeit. D8 und D6 seien insoweit geeignete Ausgangpunkte. Für die Fachperson, die von D6 ausgehe, sei es üblich gewesen, in vitro Ergebnisse auf einen in situ oder in vivo Kontext anwenden zu wollen. Diese gelte auch für ASMs, wie sich auch aus B30 (Magnus Stougaard et al., „In situ detection of non-polyadenylated RNA molecules using Turtle Probes and target primed rolling circle PRINS“, BMC Biotechnology 2007, 7:69, http://www.biomedcentral.com/1472-6750/7/69) ergebe.

Entgegen dem Gericht erster Instanz gehe der Gegenstand von Patentanspruch 1 über den Inhalt der Ursprungsanmeldung hinaus und sei die Erfindung im Verfügungspatent auch nicht so deutlich und vollständig offenbart, dass eine Fachperson sie ausführen könne.

Die Antragsteller zu 2 seien aufgrund des Vertrages mit dem NIH und US-amerikanischen Kartellrechts sowie EU-Wettbewerbsrechts unter dem Gesichtspunkt der missbräuchlichen Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung nach Art. 102 Vertrag über die Arbeitsweise der europäischen Union (AEUV) zur Lizenzierung des Verfügungspatents entsprechend den Grundsätzen der Huawei-Rechtsprechung des Gerichtshofs der EU gegenüber den Antragsgegnern verpflichtet.

Das Gericht erster Instanz habe nicht hinreichend berücksichtigt, dass der Erlass einer einstweiligen Verfügung einen unwiederbringlichen Schaden für die Antragsteller zur Folge hätte, unverhältnismäßig wäre und es an der erforderlichen Dringlichkeit des Antrags fehle.

18

Hilfsweise sei es den Antragsgegnern zumindest zu ermöglichen, die angeblichen Verletzungs- handlungen nach Sicherheitsleistung fortsetzen zu können und äußerst hilfsweise sei die Wirk- samkeit der einstweiligen Verfügung von der Leistung einer angemessenen Sicherheit durch die Antragsteller abhängig zu machen.

Die Antragsgegnerinnen beantragen,

  • die Anordnung des Gerichts erster Instanz aufzuheben und den Antrag der Antragsteller auf den Erlass einstweiliger Maßnahmen zurückzuweisen,
  • hilfsweise ihnen (den Antragsgegnerinnen) die Fortsetzung der vermeintlichen Verlet- zungshandlungen gegen die Beibringung einer Sicherheitsleistung, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, zu erlauben,
  • weiterhin hilfsweise die Wirksamkeit der einstweiligen Maßnahmen von der Beibringung einer Sicherheitsleistung durch die Antragsteller, deren Höhe durch das Gericht zu be- sämmen ist, jedoch nicht unter 20.000.000 EUR liegen sollte, abhängig zu machen,
  • den Antragstellern die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen,
  • die Entscheidung (bezüglich der Kosten) für sofort vollstreckbar zu erklären.

Die Antragsteller beantragen,

  • die Berufung gegen die Anordnung des Gerichts erster Instanz zurückzuweisen,
  • hilfsweise entsprechend der Unterlassungsanordnung des Gerichts erster Instanz mit der Maßgabe zu entscheiden, dass jeweils hinter den Worten

“1. ein Verfahren zum Nachweisen einer Vielzahl von Analyten in einer Zell- oder Ge- webeprobe,“

die Worte

19

„das in der (i) Immunhistochemie und/oder Fluoreszenz-In-Situ-Hybridisierung verwendet wird,“

eingefügt werden und jeweils hinter den Worten “(e) Verwenden der zeitlichen Reihenfolge der Signalsignaturen, die der Vielzahl der vorbestimmten Teilsequenzen des Nachweisreagenzes entspricht, zum Identifizieren einer Teilpopulation der Nachweisreagenzien, wodurch die Vielzahl von RNAs in der Zell- oder Gewebeprobe nachgewiesen wird,“ die Worte „wobei die Analyten ausgewählt sind aus der Gruppe bestehend aus Proteinen, Peptiden und Nucleinsäuren, wobei die Nucleinsäuren ausgewählt sind aus der Gruppe bestehend aus zellulärer RNA, Messenger-RNA, MikroRNA, ribosomaler RNA und jedweden Kombinationen davon“ eingefügt werden,

den Antragsgegnerinnen die Kosten des Berufungsverfahrens aufzuerlegen.

Die Antragsteller verteidigen die Anordnung des Gerichts erster Instanz.

Unter dem anspruchsgemäßen Begriff einer Zell- oder Gewebeprobe sei eine Probe zu verstehen, die eine oder mehrere Zellen umfasse, die in einem Gewebe organisiert sein könnten, wobei die Lokalisation der Analyten relativ zueinander der nativen Lokalisation in der Zelle oder dem Gewebe entspreche. Für die Zuordnung zu einer anspruchsgemäßen Teilpopulation komme es nicht darauf an, ob die Sondenreagenzien verschiedener Nachweisreagenzien chemisch identisch seien. Patentanspruch 1 sei so zu verstehen, dass die Nachweisreagenzien einmalig an ihrer Bindungsstelle binden und dann durch sich wiederholende Verfahrensschritte nachgewiesen werden. Der in Patentanspruch 1 vorgesehene Nachweis gemäß den Schritten (i) bis (iii) werde nach (iv) so lange wiederholt, bis für jede Teilpopulation der Nachweisreagenzien ein einzigartiger Code erstellt worden sei.

20

Patentanspruch 1

Patentanspruch 1 werde durch das Verfahren der Antragsgegnerinnen verletzt. Daran ändere auch die Wiederholung des Nachweisschrites (ii) und die Erstellung einer sogenannten zyklusbasierten Reihenfolge bei Verwendung der Verletzungsgegenstände ebenso wenig wie der Umstand, dass der Datenabgleich der zyklusbasierten Reihenfolge der Signalsignaturen nach dem bestritenen Vortrag der Antragsgegnerinnen über eine cloudbasierte Lösung auf einem Server außerhalb des EPG-Territoriums erfolge.

Neuheit und Erfinderische Tätigkeit

Der Gegenstand von Patentanspruch 1 sei neu. Bei zutreffender Auslegung von Patentanspruch 1 offenbare D6 weder den Nachweis von Analyten in einer Zell- oder Gewebeprobe noch, dass die „Sandwich Probes“ am jeweiligen Analyten verbleiben.

Der Gegenstand von Patentanspruch 1 sei zudem erfinderisch. D8 lehre keine Erstellung einer zeitlichen Reihenfolge von Signalsignaturen für verschiedene Teilpopulationen und deren Verwendung für den Nachweis verschiedener Analyten und lege dies für die Fachperson auch nicht nahe. Aus D6 ergebe sich kein Anlass zur Übertragung in den In-situ-Kontext. Nichts anderes gelte für die erst mit der Berufungsbegründung eingereichte B30, die „Turtle Probes“ aber keine „Sandwich Probes“ bzw. „Selector Probes“ oder vergleichbare Konstrukte einsetze.

B30 belege allenfalls, dass zum Prioritätszeitpunkt des Verfügungspatents diverse Sonden und Methoden zur Herstellung von ASMs bekannt gewesen seien, deren Eignung für eine Anwendung in situ unterschiedlich ausgeprägt war. Für eine Fachperson sei ersichtlich gewesen, dass eine Sonde bzw. ein Verfahren, das in vitro erfolgreich einsetzbar gewesen sei, nicht ohne Weiteres auch im In-situ-Kontext funktioniere und dass auch eine Übertragbarkeit von einer Analytensorte auf eine andere nicht gewährleistet gewesen sei.

Ursprungsoffenbarung und Ausführbarkeit

Der Gegenstand von Patentanspruch 1 sei auch ursprungsoffenbart und die Erfindung für die Fachperson anhand der Angaben im Verfügungspatent ausführbar.

Lizenzierungsanspruch

Den Antragsgegnerinnen stehe ein Lizenzierungsanspruch weder auf vertraglicher oder kartellrechtlicher Grundlage nach US-amerikanischem Recht zu noch wegen Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung nach EU-Recht.

Dringlichkeit des Antrags

Der Antrag auf Erlass einstweiliger Maßnahmen sei verfahrensrechtlich zulässig und in zeitlicher und sachlicher Hinsicht notwendig.

Es gebe keinen Grund, den Antragsgegnerinnen die Befugnis einzuräumen, die Vollstreckbarkeit der einstweiligen Verfügung gegen Sicherheitsleistung abwenden zu können oder die Wirksamkeit der einstweiligen Verfügung von der Leistung einer Sicherheit durch die Antragsteller abhängig zu machen.

Der Hilfsantrag sei zulässig. Der durch Hinzufügung zweier Merkmale konkretisierte Patentspruch 1 sei zulässig. Die danach verwendeten Verfahren in der Immunhistochemie („IHC“) oder Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung („FISH“) seien von Anspruch 1 mitumfasst, wie sich aus den Absätzen 234 f. des Verfügungspatents ergebe. Die ebenfalls in Anspruch 1 näher eingegrenzten Analyten (zelluläre RNA, Messenger-RNA, Mikro RNA, ribosomale RNA) ergäben sich aus den abhängigen Ansprüchen 7 und 8.

Die Antragsgegnerinnen beantragen, den Antrag der Antragsteller auf Erlass einer einstweiligen Verfügung auch in der Fassung des Hilfsantrags zurückzuweisen.

22

GRÜNDE DER ANORDNUNG

Die Berufung der Antragsgegnerinnen gegen die Anordnung des Gerichts erster Instanz (Lokal-kammer München) ist zulässig und begründet.

1.

Die Rüge der Berufung, die Lokalkammer München des Gerichts erster Instanz sei für die Entscheidung über den Antrag auf Anordnung einstweiliger Maßnahmen unzuständig gewesen, ist nicht begründet. Die Lokalkammer hat ihre Zuständigkeit bejaht, weil die als patentverletzend angegriffenen Ausführungsformen in Deutschland angeboten worden seien, Art. 33(1)a), 32(1)c), 26(1) EPGÜ. Die Berufung hat nicht aufgezeigt, dass diese Beurteilung unzutreffend ist.

2.

Die Beanstandung der Berufung, der Antrag auf Anordnung einstweiliger Maßnahmen sei wegen Verstoßes gegen Regel 206.2(c), (d) und (e) VerfO nicht zulässig gewesen, greift nicht durch.

Bei der den Antrag auf einstweilige Maßnahmen betreffenden Regel 206.2 VerfO ist zwischen der Vorschrift des Buchstabens (a) und den Vorschriften der weiteren Buchstaben (b) bis (e) zu unterscheiden.

Die in Regel 206.2(a) in Verbindung mit Regeln 13.1(a) bis (i) VerfO aufgestellten Anforderungen an den Antrag auf einstweilige Maßnahmen sind formeller Natur. Sie sind nach Einreichung des Antrags so bald wie möglich von der Kanzlei zu prüfen, Regel 208.1 in Verbindung mit Regel 16.2. Ergibt die Prüfung, dass die Anforderungen nicht erfüllt wurden, gibt die Kanzlei dem Antragsteller die Möglichkeit, die Mängel innerhalb von 14 Tagen zu beheben, Regel 16.3(a) VerfO. Werden die Mängel innerhalb dieser Frist nicht behoben, kann eine Versäumnisentscheidung nach Regel 16.5 in Verbindung mit Regel 355.1(a) VerfO ergehen.

Die in Regel 206.2(b) bis (e) VerfO aufgestellten Anforderungen beziehen sich demgegenüber auf den Inhalt des Antrags auf einstweilige Maßnahmen. Entsprechend wird die Erfüllung dieser Anforderungen auch nicht durch die Kanzlei geprüft und erfolgt auch keine Fristsetzung bei Nichterfüllung, die zu einer Versäumnisentscheidung nach Regel 355.1(a) VerfO führen kann. Vielmehr betrifft die Einhaltung der in Regel 206.2(b) bis (e) VerfO aufgestellten Anforderungen die Begründetheit des Antrags auf einstweilige Maßnahmen, dessen Prüfung dem Richter.

23

obliegt und von diesem bei den Anordnungen nach den Regeln 209, 211 und 212 VerfO zu berücksichtigen ist. Im Rahmen der insoweit vom Richter in pflichtgemäßer Ermessensausübung zu treffenden Anordnungen kann sich eine Nichteinhaltung der in Regel 206.2(b) bis (e) VerfO aufgestellten Anforderungen zu Lasten des Antragstellers auswirken.

Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerinnen führt der angebliche Verstoß gegen Regel 206.2(c), (d) und (e) damit nicht zur Unzulässigkeit des Antrags. Im vorliegenden Fall hat die Berufung auch nicht aufgezeigt, dass das Gericht erster Instanz die Nichteinhaltung der Anforderungen der Regeln 206.2(b) bis (e) VerfO - rechtsfehlerhaft - bei seiner Ermessensentscheidung nicht berücksichtigt hat.

3.

Die von der Berufung gegen die Antragsberechtigung der Antragsteller zu 2 vorgebrachten Bedenken sind nicht begründet. Aufgrund ihrer entsprechenden Eintragung im Register für einheitlichen Patentschutz sind die Antragsteller zu 2 als Inhaber des Verfügungspatents zu behandeln, Regel 8.4 VerfO. Als solche sind sie berechtigt, die Anordnung einstweiliger Maßnahmen zu beantragen, Art. 47(1) EPGÜ.

Nach den von der Berufung nicht beanstandeten Feststellungen des Gerichts erster Instanz ist die Antragstellerin zu 2 jedenfalls als Inhaberin einer ihr von den Antragstellern zu 1 erteilten nicht ausschließlichen Lizenz antragsberechtigt, Art. 47(3) EPGÜ.

4.

Das Verfügungspatent betrifft ein Verfahren zur Detektion einer Vielzahl von Analyten in einer Zell- oder Gewebeprobe.

a)

Nach der Beschreibung des Verfügungspatents besteht ein Bedarf an Multiplexing-Techniken in der Biologie. Testproben seien kostbar und Forscher, die sie analysieren wollen, wüssten im Voraus nicht, wonach sie zu suchen haben, oder müssten diese Information erst aus einzelnen Proben gewinnen. Von daher sei es für Forscher wünschenswert, jede Probe mit einem großen Satz von Sonden in Kontakt zu bringen (Verfügungspatent, Abs. 2).

Optisches Auslesen ist nach den weiteren Angaben der Beschreibung in der Biologie weit verbreitet und kann sehr effektiv sein. Es sei jedoch typischerweise auf eine eher kleine Anzahl verfügbarer Fluorophore oder Chromophore beschränkt (Verfügungspatent, Abs. 3).

Mul�plexing bei op�schen Verfahren könne durch die Erhöhung der Anzahl der verfügbaren Farben verbessert werden. Zu diesem Zweck seien Quantenpunkte, Mischungen aus Fluoro-phoren als neue Farben oder Nanostrings verwendet worden. Aber auch insoweit gebe es Be-schränkungen und Schwierigkeiten (Verfügungspatent, Abs. 4).

Dem Problem der begrenzten Zahl von Farben in op�schen Anzeigen könne durch Wiederho-lung der Detek�on derselben Probe mit mehreren kleinen Sätzen unterschiedlicher Sonden begegnet werden. Dabei könne es jedoch erforderlich werden, die Reihenfolge der Erkennung verschiedener Zielanalyten zu priorisieren, weil sich einige Zielanalyten in der Probe bei aufei-nanderfolgenden Untersuchungen verschlechtern könnten (Verfügungspatent, Abs. 6).

b) Vor diesem Hintergrund ist das der Erfindung zugrundeliegende Problem darin zu sehen, op�sche Mul�plexing-Methoden mit hohem Durchsatz zur Detek�on von Zielmolekülen in ei-ner Probe zu entwickeln (vgl. Verfügungspatent, Abs. 6).

c) Nach Patentanspruch 1 des Verfügungspatents in der Fassung des Hauptantrags (das ge-genüber der erteilten Fassung weggefallene Merkmal ist jeweils durchgestrichen) soll dieses Problem durch folgendes Verfahren gelöst werden:

Verfahren zum Nachweisen einer Vielzahl von Analyten in einer Zell- oder Gewebeprobe, um-fassend:

  1. (a) Anbringen (Moun�ng) der Zell- oder Gewebeprobe auf einem festen Träger;
  2. (b) Kontak�eren der Zell- oder Gewebeprobe mit einer Zusammensetzung, die eine Viel-zahl von Nachweisreagenzien umfasst, wobei
  3. die Vielzahl der Nachweisreagenzien eine Vielzahl von Teilpopula�onen der Nachweis-reagenzien umfasst;
  4. (c) Inkubieren der Zell- oder Gewebeprobe zusammen mit der Vielzahl von Nachweisrea-genzien für eine ausreichende Zeitdauer, um Binden der Vielzahl von Nachweisreagenzien an die Analyten zu ermöglichen;
  5. wobei jede Teilpopula�on der Vielzahl von Nachweisreagenzien auf einen unter-schiedlichen Analyten zielt,
  6. wobei jedes der Vielzahl von Nachweisreagenzien umfasst:
  7. ein Sondenreagenz, das auf einen Analyten der Vielzahl von Analyten zielt, und
  8. eine oder eine Vielzahl vorbes�mmter Teilsequenzen,

3.2.3.

wobei das Sondenreagenz und die eine oder die Vielzahl der vorbesimmten Teilsequenzen miteinander konjugiert sind;

4.

(d) Nachweisen der einen oder der Vielzahl von vorbesimmten Teilsequenzen in einer zeitlich sequenziellen Weise, wobei das Nachweisen umfasst:

4.1.

(i) Hybridisieren eines Satzes von Dekodersonden mit einer Teilsequenz der Nachweisreagenzien,

4.1.1.

wobei der Satz von Dekodersonden eine Vielzahl von Teilpopulationen von Dekodersonden umfasst, und

4.1.2.

wobei jede Teilpopulation der Dekodersonden eine nachweisbare Markierung umfasst,

4.1.3.

wobei jede nachweisbare Markierung eine Signalsignatur produziert;

4.2.

(ii) Nachweisen der durch die Hybridisierung des Satzes von Dekodersonden produzierten Signalsignatur;

4.3.

(iii) Entfernen der Signalsignatur; und

4.4.

(iv) Wiederholen von (i) und (iii) unter Verwendung eines unterschiedlichen Satzes von Dekodersonden, um andere Teilsequenzen der Nachweisreagenzien nachzuweisen, wodurch eine zeitliche Reihenfolge der Signalsignaturen produziert wird, die für jede Teilpopulation von der Vielzahl von Nachweisreagenzien eindeutig ist; und

5.

Verwenden der zeitlichen Reihenfolge der Signalsignaturen, die der einen oder der Vielzahl der vorbesimmten Teilsequenzen des Nachweisreagenzes entspricht, zum Identifizieren einer Teilpopulation der Nachweisreagenzien, wodurch die Vielzahl von Analyten in der Zell- oder Gewebeprobe nachgewiesen wird.

d) Patentanspruch 1 des Verfügungspatents bedarf im Hinblick auf einige seiner Merkmale der Auslegung.

aa) Dabei geht das EPG-Berufungsgericht nach Art. 69 Übereinkommen über die Erteilung europäischer Patente (EPÜ) und dem Protokoll zu seiner Auslegung (Auslegungsprotokoll) von folgenden Grundsätzen aus.

Der Patentanspruch ist nicht nur der Ausgangspunkt, sondern die maßgebliche Grundlage für die Bestimmung des Schutzbereichs eines europäischen Patents.

Für die Auslegung eines Patentanspruchs kommt es nicht allein auf seinen genauen Wortlaut im sprachlichen Sinne an (vgl. auch die englische und die französische Sprachfassung des Auslegungsprotokolls: „the strict, literal meaning of the wording used in the claims“, „sens étroit

et litéral du texte des revendica­ons“). Vielmehr sind die Beschreibung und die Zeichnungen als Erläuterungshilfen für die Auslegung des Patentanspruchs stets mit heranzuziehen und nicht nur zur Behebung etwaiger Unklarheiten im Patentanspruch anzuwenden.

Das bedeutet aber nicht, dass der Patentanspruch lediglich als Richtlinie dient und sich sein Gegenstand auch auf das erstreckt, was sich nach Prüfung der Beschreibung und der Zeich­nungen als Schutzbegehren des Paten­nhabers darstellt.

Der Patentanspruch ist aus Sicht der Fachperson auszulegen.

Bei der Anwendung dieser Grundsätze soll ein angemessener Schutz für den Paten­nhaber mit ausreichender Rechtssicherheit für Dritte verbunden werden.

Diese Grundsätze für die Auslegung eines Patentanspruchs gelten gleichermaßen für die Be­urteilung der Verletzung und des Rechtsbestands eines europäischen Patents. Das ergibt sich aus der Funk­on der Patentansprüche, die nach dem Europäischen Patentübereinkommen dazu dienen, den Schutzbereich des Patents nach Art. 69 EPÜ und damit die Rechte des Paten­nhabers in den benannten Vertragsstaaten nach Art. 64 EPÜ unter Berücksich­tigung der Voraussetzungen für die Paten­eerbarkeit nach den Art. 52 bis 57 EPÜ festzulegen (vgl. EPA GBK, 11. Dezember 1989, G 2/88, ABl. 1990, 93 Rn. 2.5).

bb) Der Auslegung des Gerichts erster Instanz, dass unter einer Zell- oder Gewebeprobe im Sinne des Patentanspruchs 1 eine Probe zu verstehen ist, die strukturell noch als Zelle oder Gewebe erkennbar ist, ist zuzus­ammen.

Ein solches Verständnis wird durch den Anspruchswortlaut gestützt, der zwischen der nachzu­weisenden Vielzahl von Analyten und der Zell- und Gewebeprobe unterscheidet, so dass beide nicht iden­tisch sein können. Die Analyten sind zwar Teil der Zell- oder Gewebeprobe. Die Zell- oder Gewebeprobe muss aber als solche noch über die Analyten hinaus als solche strukturell erkennbar sein, was im Wortlaut des Anspruchs durch die Formulierung „Analyten in einer Zell- oder Gewebeprobe“ zum Ausdruck kommt.

27

Mit dem derart verstandenen Wortlaut des Anspruchs sämmt überein, dass am Anfang der Beschreibung darauf hingewiesen wird, dass der Bedarf an Multiplexing-Techniken in der Biologie auf die Tatsache zurückzuführen sei, dass Testproben kostbar seien und die Forscher nicht genau wüssten, wonach sie suchen müssten (Verfügungspatent, Abs. 2).

Einer solchen Auslegung steht nicht entgegen, dass in der Beschreibung in den Absätzen 48 und 49 verschiedene Arten der Probenbehandlung erwähnt sind, darunter neben solchen, bei denen die Zell- oder Gewebeprobe erhalten bleibt, wie etwa das Fixieren, Permeabilisieren, Aufbringen auf einen festen Träger, Blockieren unspezifischer Bindungsstellen (Verfügungspatent, Abs. 49, Satz 1), auch solche, bei denen Proteine oder Nukleinsäuren aus einer Zell- oder Gewebeprobe isoliert, elektrophoretisch auf einem Trennmedium aufgetrennt und dann auf eine Blotting-Membran aufgetragen werden (Verfügungspatent, Abs. 49, Satz 2). Denn allein aus der Erwähnung in der Beschreibung ergibt sich nicht, dass die Proteine oder Nukleinsäuren auch noch, nachdem sie wie zuletzt genannt behandelt worden sind, als Analyten in einer Zell- oder Gewebeprobe im Sinne von Patentanspruch 1 anzusehen sind.

Nichts anderes gilt für die Absätze 209 bis 223 der Beschreibung, in denen sich zum einen Ausführungen über Analyten und Zielmoleküle und zum anderen Ausführungen zu Proben finden. Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerinnen und ihres Sachverständigen Dr. Furneaux (B27, S. 3) kann aus dem Hinweis, dass ein Zielmolekül oder ein Analyt Bestandteil einer ganzen Zelle, eines Gewebes oder einer Körperflüssigkeit, eines Zell- oder Gewebeextrakts, eines fraktionierten Lysats davon oder eines im Wesentlichen gereinigten Moleküls sein kann (Verfügungspatent, Abs. 211, Satz 2), nicht darauf geschlossen werden, dass auch fraktionierte Lysate oder ein im Wesentlichen gereinigtes Molekül als Analyten in einer Zell- oder Gewebeprobe gemäß Patentanspruch 1 zu gelten haben.

cc) Entgegen dem Verständnis des Gerichts erster Instanz ist Patentanspruch 1 nicht zu entnehmen, dass die Nachweisreagenzien während des gesamten Nachweisverfahrens gemäß Merkmalsgruppe 4 an die jeweiligen Analyten gebunden bleiben müssen.

Das Berufungsgericht stimmt zwar mit dem Gericht erster Instanz darin überein, dass die Nachweisreagenzien sicher an die jeweiligen Analyten binden müssen und, um dies zu ermöglichen, eine hinreichende Inkubationszeit der Zell- oder Gewebeprobe zusammen mit der Vielzahl von

Nachweisreagenzien vorgesehen sein muss, Merkmal 3. Entgegen der Ansicht des Gerichts erster Instanz schließt die Notwendigkeit einer hinreichenden Inkubationszeit aber nicht aus, dass die Decoderproben, nachdem sie eine sichere Bindung mit den jeweiligen Analyten eingegangen sind, zu einem späteren Zeitpunkt, wie etwa zusammen mit der nach Merkmal 4.3 vorgesehenen Entfernung der Signalsignaturen, wieder entfernt werden und mit den gleichen Nachweisreagenzien wieder ersetzt werden können.

Das steht in Einklang mit dem Wortlaut von Patentanspruch 1, der ein Nachweisverfahren vorsieht, das die Verfahrensschrite „(c) Inkubieren“ und „(d) Nachweisen“ „umfassen“ soll, aber nicht vorschreibt, dass ersterer nicht mehrfach durchgeführt werden darf.

Dem von den Antragstellern in der mündlichen Verhandlung unter Hinweis auf Absatz 45 der Beschreibung des Verfügungspatents vorgebrachten Argument, eine wiederholte Ersetzung der Nachweisreagenzien während der Durchführung des Nachweisverfahrens sei wegen der langen Inkubationszeit als prakisch nicht durchführbar anzusehen, kann nicht zugesimmt werden. In Absatz 45 wird eine große Reichweite von möglichen Inkubationszeiten beschrieben. Dabei werden zwar einerseits Inkubationszeiten von mindestens etwa 12, 24 oder 48 Stunden oder länger genannt. Andererseits werden aber auch Inkubationszeiten von mindestens etwa 30 Sekunden, 1, 5, 10, 15 oder 30 Minuten sowie darüber hinaus weitere Inkubationszeiten zwischen diesen Extremen beschrieben. Wird diese große Reichweite an Inkubationszeiten insgesamt betrachtet, war es auch aus praktischen Gründen nicht ausgeschlossen, eine Verfahrensweise als anspruchsgemäß anzusehen, bei der die Nachweisreagenzien, nachdem sie eine Bindung mit den Analyten eingegangen sind, mit der Signalsignatur wieder entfernt und durch gleiche Nachweisreagenzien ersetzt werden.

5. Die Berufung rügt zu Recht, dass entgegen der Beurteilung des Gerichts erster Instanz der Rechtsbestand des Verfügungspatents nicht mit einer für den Erlass der beantragten einstweiligen Verfügung ausreichenden Sicherheit gegeben ist.

a) Da die Anordnung einstweiliger Maßnahmen im Wege eines summarischen Verfahrens gemäß Regeln 205 ff. VerfO ergeht, in dem die Möglichkeiten für die Parteien, Tatsachen und Beweise vorzubringen begrenzt sind, stimmt das Berufungsgericht mit dem Gericht erster Instanz darin überein, dass die Anforderungen an den Beweis nicht zu hoch angesetzt werden.

dürfen, insbesondere wenn mit einem Verweis auf das Hauptsacheverfahren verbundene Verzögerungen einen nicht wiedergutzumachenden Schaden für den Inhaber des Patents mit sich bringen würden, Art. 62(2) und (5), 60(5) EPGÜ (vgl. EuGH, Urteil vom 28. April 2022, Phoenix Contact, C-44/21, EU:C:2022:309, Rn. 32 unter Bezugnahme auf Art. 9(1)(a) Richtlinie 2004/48/EG). Andererseits dürfen sie aber auch nicht zu niedrig angesetzt werden, um zu verhindern, dass der Antragsgegner durch die Anordnung einer vorläufigen Maßnahme, die zu einem späteren Zeitpunkt nach Art. 62(5), Art. 60(8) und (9) EPGÜ, Regel 213 VerfO aufgehoben wird, Schaden nimmt, Art. 62(2) EPGÜ, vgl. auch Art. 9(7) Richtlinie 2004/48/EG.

Regel 211.2 VerfO sieht in Verbindung mit Art. 62(4) EPGÜ (vgl. auch Art. 9(3) Richtlinie 2004/48/EG) vor, dass das Gericht den Antragsteller eines Antrags auf vorläufige Maßnahmen auffordern kann, alle vernünftig verfügbaren Beweise vorzulegen, um das Gericht mit ausreichender Sicherheit davon überzeugen zu können, dass der Antragsteller gemäß Art. 47 EPGÜ zur Einleitung eines Verfahrens berechtigt ist, das Patent gültig ist und sein Recht verletzt wird oder verletzt zu werden droht.

Eine solche ausreichend sichere Überzeugung erfordert, dass es das Gericht zumindest für überwiegend wahrscheinlich hält, dass der Antragsteller zur Einleitung eines Verfahrens berechtigt ist und das Patent verletzt wird. An einer ausreichend sicheren Überzeugung fehlt es, wenn es das Gericht für überwiegend wahrscheinlich ansieht, dass das Patent nicht gültig ist.

Die Darlegungs- und Beweislast für Tatsachen, aus denen sich die Berechtigung zur Verfahrenseinleitung und die Verletzung oder drohende Verletzung des Patents ergeben sollen, so wie für alle anderen Umstände, die den Antrag des Antragstellers stützen sollen, liegt beim Antragsteller, während, sofern Gegenstand der Entscheidung nicht die Anordnung von Maßnahmen ohne Anhörung des Antragsgegners gemäß Art. 60(5) i.V.m. Art. 62(5) EPGÜ ist, die Darlegungs- und Beweislast für Tatsachen betreffend die fehlende Gültigkeit des Patents und andere Umstände, die den Standpunkt des Antragsgegners stützen, beim Antragsgegner liegt.

Die genannte Verteilung der Darlegungs- und Beweislast im Eilverfahren steht in Einklang mit der Verteilung der Darlegungs- und Beweislast im Hauptsacheverfahren, in dem Tatsachen, aus denen sich die Berechtigung zur Verfahrenseinleitung und der Verletzung oder drohenden

Verletzung des Patents ergeben sollen, sowie sons�ge dem Verletzungskläger güns�ge Um-

stände von diesem darzulegen und zu beweisen sind (Art. 54, 63, 64 und 68 EPGÜ, Regel 13.1(f) und (l)-(n) VerfO), während die Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich der Tatsachen, aus de-

nen die fehlende Gül�gkeit des Patents folgen soll, sowie sons�ger dem Nich�gkeits- oder Nich�gkeitswiderkläger güns�ger Umstände bei jenem liegt (Art. 54 und 65(1) EPGÜ, Regeln 44(e)-(g), 25.1(b)-(d) VerfO).

b) Entgegen der Ansicht des Gerichts erster Instanz ist es nach Beurteilung des Berufungsge-

richts überwiegend wahrscheinlich, dass sich der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der mit

dem Hauptantrag geltend gemachten Fassung als nicht patenfähig nach Art. 52(1) EPÜ erwei-

sen wird.

aa) Dabei geht das Berufungsgericht von der Zulässigkeit der Fassung des Patentanspruchs 1

aus, die von den Antragstellern mit dem Hauptantrag geltend gemacht wird (Streichung der

Worte „der einen oder“ bei den Merkmalen 3.2.2, 3.2.3, 4 und 5). Die Berufung hat nicht ge-

rügt, dass das Gericht erster Instanz die Anspruchsfassung des Hauptantrags fehlerha� als zu-

lässig angesehen habe.

bb) Die Rüge der Berufung, das Gericht erster Instanz habe unzutreffend angenommen, dass

sich der Gegenstand von Patentanspruch 1 als neu gegenüber D6 erweisen werde, ist unbe-

gründet.

(1) D6 betri� ein Array-Format mit einem Dekodierungsschema für gezielte digitale Mul�plex-

Molekularanalysen. Wie auch aus der nachfolgend wiedergegebenen Figur 3 ersichtlich, offen-

bart D6 eine Mul�plexkodierung und -dekodierung von genomischen Loci.

31

Encoding

Decoding scheme

restriction-digested genometagtag 2
1: ABCC42: CCNAI3: DACHDLEUI
5: INGI6: PSSSPR7: RBI
8: BRCA29: MADHA10: MCZRI
11: NFATCI12: PMAIPI13: SERPINB2
14: SS18_115: SS18_216: TYMS
17: APP18: NCAM219: SIM2
20: SODI21: STCH22: TFFI
23: TIAMI24: USP2525: AR
26: ARX27: DMD29: LICAM
28: FACL430: PDCD831: RPS6KA3
32: TMASF233: CY1SA34: SRY
35: TTY9A36: UTY

Wie unter „A“ gezeigt, werden aus spezifischen genomischen DNA-Sequenzen und Selektor- sondens genomische DNA-Ringe gebildet (i) und die DNA-Ringe durch RCA (Rolling-Circle-Amp- lifika�on) amplifiziert (ii) oder in anderer Weise angereichert (iii), um amplifizierte Einzelmo- leküle (ASMs) zu erzeugen. Die ASMs werden sodann immobilisiert und ein Zufallsarray auf einem Mikroskopie-Glasträger erzeugt.

Wie unter „B“ gezeigt, werden die im Array immobilisierten ASMs durch sequenzielle Hybridi- sierung von Sandwich-Sonden, Tag-Sonden (rot oder blau) und einer allgemeinen Sonde ent- schlüsselt, nachdem sie zuvor 1 Stunde lang unter Schüteln bei 55° C inkubiert worden sind (D6, S. 3, linke Sp. unter „Hybridiza�on of ASMs“). Die Sandwich-Sonden sind einerseits kom- plementär zu einem spezifischen ASM und enthalten andererseits zwei Dekodierungs-Tags (tag).

1 und tag 2), die mit entsprechenden Tag-Sonden hybridisieren. Ein kleiner 20 x 20 Pixel großer Bildausschnit zeigt die markierten ASMs nach den verschiedenen Hybridisierungsreaktionen zusammen mit einem Bild, das die identifizierten ASMs zeigt. Die ASM-Arrays wurden in vier Zyklen der Hybridisierung und Dehybridisierung entschlüsselt (D6, S. 4, l.Sp./S.5, r.Sp.).

Unter „C“ wird ein für die Multiplex-Dekodierung verwendetes Dekodierungsschema gezeigt, bei dem die Namen der Genorte und die entsprechenden Nummern vertikal aufgelistet und die Markierungen der beiden Tags horizontal dargestellt sind. Die farblichen Markierungen stehen für die Fluoreszenzfarbstoffe Cy3 (grün), Texas Red (rot) und Cy5 (blau) und die schwarze Markierung für kein nachweisbares Signal (D6, unter Figure 3; Abstract; S. 4, r. Sp. unter „Multiplex targeted copy-number variation analysis“).

(2) D6 offenbart somit alle Merkmale des Patentanspruchs 1 (vgl. auch Bundespatentgericht, Qualifizierter Hinweis vom 7. Februar 2023 [BP9], S. 5 ff., betreffend das Stammpatent) mit Ausnahme des Merkmals, dass das Verfahren zum Nachweisen einer Vielzahl von Analyten „in einer Zell- oder Gewebeprobe“ dienen soll, da das in D6 beschriebene Verfahren zwar dem Nachweis von ASMs (amplifizierten DNA-Molekülen) und damit einer Vielzahl von Analyten dient, diese sich aber nicht in einer Zell- oder Gewebeprobe befinden. Der durchschnittliche Fachmann würde nämlich einen aus einer Zelle isolierten und in den ASMs amplifizierten Teil der genomischen DNA nicht als Zell- oder Gewebematerial im Sinne des Patents ansehen. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerinnen reicht es hierfür nicht aus, dass die Probe einen zellulären Ursprung hat. Wie oben festgestellt, ist nur eine Probe, die strukturell noch als Zelle oder Gewebe erkennbar ist, eine Zell- oder Gewebeprobe im Sinne des Patentanspruchs 1. Es ist unstrittig, dass ein ASM nicht als Zelle oder Gewebe erkennbar ist.

Die ASMs werden nach D6 auf einem Glasträger angebracht und mit einer Vielzahl von Sandwich-Sonden kontaktiert und inkubiert, um beide jeweils aneinander zu binden. Dabei haben die Sandwich-Sonden die Funktion einer Vielzahl von Nachweisreagenzien bzw. einer Vielzahl von Teilpopulationen derselben im Sinne des Patentanspruchs 1, da sie einerseits auf einen spezifischen ASM zielen und andererseits (Tag 1 und Tag 2) mit einer Vielzahl vorbestimmter Teilsequenzen mit einem Satz von Tag-Sonden (den Dekodersonden im Sinne des Patentsanspruchs 1) hybridisieren. Jede Teilpopulation der Tag-Sonden umfasst eine nachweisbare Markierung, die eine Signalsignatur produziert (einen der Fluoreszenzfarbstoffe Cy3, Texas Red).

oder Cy5). Die durch die Hybridisierung erzeugten Signalsignaturen werden jeweils erfasst (vgl. die 20 x 20 Pixel großen Bildausschnitte in Figure 3) und damit nachgewiesen. Nach dem Erfassen werden Signalsignaturen bei der Dehybridisierung wieder entfernt und es beginnt ein neuer Hybridisierungszyklus mit unterschiedlichen Sätzen von Dekodersonden.

Zutreffend haben das Gericht erster Instanz und die Antragsteller ausgeführt, dass in D6 die Hybridisierung und Dehybridisierung in vier Zyklen durchgeführt werden und bei jeder Hybridisierung erneut Sandwich-Sonden hinzugegeben werden. Dieser Umstand steht einer Offenbarung der Lehre aus Patentanspruch 1 jedoch nicht entgegen, da diese, wie oben erläutert, es nicht erfordert, dass die Bindung zwischen den Nachweisreagenzien und den jeweiligen Analyten während der gesamten Dauer des Verfahrens fortbesteht.

cc) Entgegen der Beurteilung des Gerichts erster Instanz ist es überwiegend wahrscheinlich, dass sich der Gegenstand von Patentanspruch 1 in der Fassung des Hauptantrags als naheliegend erweisen wird.

Für eine Fachperson, die sich zum Prioritätszeitpunkt des Verfügungspatents vor die Aufgabe gestellt sah, opsche Multiplexing-Methoden mit hohem Durchsatz zur Detektion von Zielmolekülen in einer Probe zu entwickeln, war D6 von Interesse, da darin ein Verfahren zum Nachweis einer Vielzahl amplifizierter Einzelmoleküle (ASMs) durch Kodierung und Dekodierung der Einzelmoleküle offenbart wird, bei dem die Kodierung durch sondenvermittelte Erzeugung ringförmiger DNA und die Dekodierung durch zeitlich sequenzielle Detektion der anvisierten ASMs erfolgt (vgl. D6, Abstract).

Dies wird in D6 zwar für ASMs offenbart, die in vitro in einem Array-Format angeordnet sind. Da aber zum Prioritätszeitpunkt ein Bedarf an Multiplexanalysetechniken gerade auch für Testproben bestand (vgl. Verfügungspatent, Abs. 2), gab es eine Veranlassung darüber nachzudenken, ob das in D6 offenbarte Kodierungs- und Dekodierungsverfahren auf den Nachweis von ASMs in Zell- oder Gewebeproben übertragen werden kann (vgl. auch das schwedische Amt für geistiges Eigentum, PRV Consulting Report vom 28. Juni 2023, B10, S. 5).

Eine Anregung bzw. Bestätigung, in diese Richtung zu denken, ergab sich zudem aus dem Hinweis in D6 (S. 3, linke Spalte), dass im Stand der Technik Rolling-circle-ASMs für das Auslesen

verschiedener Genotypisierungsassays sowie zum Nachweis von Proteinen und Proteinkomplexen in situ mit Proximity Liga�on verwendet worden seien. Dass die „Genotypisierungsassays“ in situ durchgeführt wurden, ergibt sich aus der Fußnote 20 der D6, welche auf Larsson et al., „In situ genotyping individual DNA molecules by target-primed rolling-circle amplifica-�on of Padlock probes“, Nat. Methods 2004, 1, 227 ff. verweist, das schon dem Titel nach ein in situ-Verfahren beschreibt. Darüber hinaus verweist D6 auf eine Veröffentlichung über die In-situ-Beobachtung von Proteinkomplexen (Söderberg et al., Direct observation of individual endogenous protein complexes in situ by proximity ligation, Nat. Methods 2006, vol. 3 no. 12 [D19]).

Dass für die Fachperson zum Prioritätszeitpunkt des Verfügungspatents nach erfolgreicher Anwendung eines In-vitro-Mul�plexverfahrens zur Detek�on von ASMs als nächster Schrit die Übertragung des Verfahrens auf eine In-situ-Umgebung in Betracht kam, wird weiterhin durch B30 (Stougaard et al., „In situ detec�on of non-polyadenylated RNA molecules using Turtle Probes and target primed rolling circle PRINS“, BMC Biotechnology 2007, 7:69) belegt. In dieser Druckschri� wird ein Verfahren zur Detek�on nicht polyadenylierter RNA Moleküle unter Verwendung „eines neuen Sondenformats“ („Turtle Probes“) beschrieben, das zunächst in „einer kontrollierbaren Umgebung“ in vitro durchgeführt (B30, S. 4, r. Sp., letzter Abs.) und nach erfolgreicher Durchführung auch in situ mit posi�vem Ergebnis erprobt wurde (B30, S. 4, l. Sp. – S.5; Abstract, Results).

Auch wenn mit den Antragstellern angenommen wird, dass seinerzeit verschiedene Sonden und Methoden zur Herstellung von ASMs bekannt waren, deren Eignung für eine Anwendung in situ unterschiedlich ausgeprägt war und die Fachperson aus der erfolgreichen Anwendung einer Sonde oder eines Verfahrens in vitro nicht ohne Weiteres darauf geschlossen häte, dass diese Sonde oder dieses Verfahren auch in einem In-situ-Kontext funk�onieren würde, ist festzuhalten, dass dieser Gesichtspunkt die Autoren der B30 doch nicht davon abgehalten hat, das Detek�onsverfahren mit „Turtle Probes“, nachdem es zunächst erfolgreich in vitro durchgeführt wurde, dann auch in situ durchzuführen. Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb dies ausgehend von dem in D6 mit Selektorsonden in vitro durchgeführten Detek�onsverfahren anders gewesen wäre.

35

Der von den Antragstellern insoweit angeführte Unterschied, dass nach D6 die Nukleinsäuren (Analyten) vor dem Einsatz der Selektorsonden einem Restrikonsverdau unterzogen worden seien, während dies bei Anwendung der „Turtle Probes“ nach B30 nicht erforderlich gewesen sei, erklärt sich damit, dass in B30 die Detektion auf RNA-Moleküle abzielt, während die Detektion in D6 auf genomisches DNA-Material ausgerichtet ist, das durch Restrikonsverdau für die Hybridisierung mit den Selektorsonden erst vorbereitet werden muss (vgl. etwa Figur 3 A und die Erläuterung unter Figur 3). Ein Grund, der den Fachmann – anders als bei B30 – bei D6 davon abgehalten hätte, die Anwendung des dort in vitro offenbarten Multiplexverfahrens zur Detektion von Nukleinsäuren auch auf ein In-situ-Umfeld mit Zell- oder Gewebeproben zu übertragen, ergibt sich daraus nicht.

Auch dem Einwand der Antragsteller, es habe aus fachlicher Sicht keine hinreichende Erfolgserwartung bestanden, weil diese sich mit Problemen wie dem „molecular crowding“ (Abgrenzbarkeit/Unterscheidbarkeit mehrerer in enger räumlicher Nähe vorkommender Analyten) oder „Autofluoreszenzen“ (unvorhersehbare Wechselwirkungen) in der Zell- oder Gewebeprobe konfrontiert gesehen hätte, kann nicht beigetreten werden. Nach Beurteilung des technisch fachkundig besetzten Gerichts handelt es sich insoweit um Probleme, die sich regelmäßig in Zusammenhang mit der In-situ-Detektion von Analyten in Gewebe- oder Zellproben stellen, mit denen die Fachperson aber aufgrund ihres Fachwissens zum Prioritätszeitpunkt umgehen konnte und die sie deshalb nicht wegen unzureichender Erfolgsaussichten davon abgehalten hätten, Versuche im genannten Sinne durchzuführen (ebenso das schwedische Amt für geistiges Eigentum, PRV Consulting Report, B10, S. 5). Diese Einschätzung wird dadurch gestützt, dass auch im Verfügungspatent keine Ausführungen dazu gemacht werden, wie mit den genannten Problemen bei In-situ-Detektion umzugehen ist, wie etwa beim Einsatz von Immunhistochemieverfahren oder RNA-Fluoreszenz-In-situ-Hybridisierung (FISH) (Verfügungspatent, vgl. Abs. 48 ff., Abs. 212 ff. „Sample“, Abs. 224 ff. „Applications of the detection reagents“; Abs. 234 „Immunohistochemistry“; Abs. 235 „In-situ-hybridization“, „Fluorescence in-situ hybridization“).

Schließlich hat auch die zeitliche Komponente der Fachperson keinen Grund gegeben, von Versuchen abzusehen, das in D6 offenbarte Verfahren auf die Detektion von Analyten in Zell- und

Gewebeproben zu übertragen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich die Fachperson aufgrund ihres Fachwissens in der Lage sah, die Zeitdauer unter Berücksichtigung weiterer Faktoren, wie den Bindungsaffinitäten, den Inkubationsbedingungen und der Konzentration der Selektorsonden derart einzustellen, dass die Nachweisreagenzien hinreichend fest an die Analyten binden. Diese Einschätzung wird dadurch bestätigt, dass auch dem Verfügungspatent, das in Patentanspruch 1 ein Inkubieren für eine Zeitdauer vorsieht, die ausreichend ist, um ein Binden der Vielzahl der Nachweisreagenzien an die Analyten zu ermöglichen, keine näheren Angaben zur konkreten Einstellung entnommen werden können. Vielmehr werden in der Beschreibung des Verfügungspatents für das Kontaktieren der Proben mit den Nachweisreagenzien lediglich Zeiten zwischen 30 Sekunden und 48 Stunden oder länger und Faktoren genannt, die für die Länge der Kontaktzeiten von Bedeutung sein können, wie Bindungsaffinitäten, Konzentrationen der Sondenreagenzien oder Analyten, Konzentrationen der Nachweisreagenzien und/oder die Inkubationsbedingungen (Verfügungspatent, Abs. 45). Das lässt darauf schließen, dass auch das Verfügungspatent davon ausgeht, dass die Fachperson aufgrund ihrer allgemeinen Qualifikation befähigt ist, die zeitliche Komponente richtig zu bemessen.

c) Da es nach alledem überwiegend wahrscheinlich ist, dass das Verfügungspatent sich in einem Hauptsacheverfahren wegen fehlender erfinderischer Tätigkeit als nicht patenfähig erweisen wird, fehlt es an einer ausreichend sicheren Grundlage für den Erlass einer einstweiligen Verfügung entsprechend dem Hauptantrag der Antragsteller.

  1. Der Erlass einer einstweiligen Verfügung ist auch nicht auf Grundlage des Hilfsantrags der Antragsteller begründet.

a) Insoweit kann unentschieden bleiben, ob der Hilfsantrag bereits unzulässig ist, weil die Antragsgegnerinnen im Verfahren vor dem Gericht erster Instanz keine Gelegenheit hatten, die Rechtsgültigkeit des Verfügungspatents in der Fassung des Hilfsantrags zu überprüfen, da die Antragsteller diesen dort erst in der mündlichen Verhandlung gestellt haben, nachdem das Gericht die Parteien darauf aufmerksam gemacht hatte, dass im Parallelverfahren betreffend das Stammpatent die Anordnungsanträge in einer den Patentanspruch des Stammpatents einschränkenden Fassung gestellt worden seien.

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b) Denn der Antrag auf den Erlass einer einstweiligen Verfügung ist jedenfalls unbegründet, weil es überwiegend wahrscheinlich ist, dass sich das Verfügungspatent auch in der Fassung des Hilfsantrags als nicht rechtsbeständig erweisen wird.

aa) Mit dem Hilfsantrag machen die Antragsteller eine Verletzung des Verfügungspatents mit folgenden beiden Änderungen von Patentanspruch 1 gegenüber der Fassung des Hauptantrags geltend:

  • Das Verfahren zum Nachweisen einer Vielzahl von Analyten in einer Zell- oder Gewebeprobe wird in der Immunhistochemie und/oder der Floreszenz-in-situ-Hybridisierung verwendet.
  • Die Analyten sind ausgewählt aus der Gruppe bestehend aus Proteinen, Peptiden und Nukleinsäuren, wobei die Nukleinsäuren ausgewählt sind aus der Gruppe bestehend aus zellulärer RNA, Messenger-RNA, MikroRNA, ribosomaler RNA und jedweden Kombinationen davon.

bb) Immunohistochemie ist eine der Fachperson zum Prioritätszeitpunkt bekannte Technik, mit der Analyten mit Hilfe markierter Antikörper für eine mikroskopische Bewertung sichtbar gemacht werden können (vgl. Verfügungspatent, Abs. 234).

Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung ist eine der Fachperson ebenfalls zum Prioritätszeitpunkt bekannte Technik zum Nachweis von zellulärer DNA oder RNA, bei der die mit dem Zielanalyten hybridisierende Sonde mit Hilfe eines fluoreszierenden Farbstoffs nachgewiesen wird (vgl. Verfügungspatent, Abs. 235).

Für eine Fachperson, die ausgehend von D6 dazu angeregt wurde, das dort offenbarte In-vitro-Multiplex-Detektionsverfahren auf Zell- oder Gewebeproben zu übertragen, lag es nahe, dabei auch die ihr aufgrund ihres Fachwissens bekannten Techniken der Immunhistochemie und/oder der Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung zu verwenden (vgl. aber auch Bundespatentgericht, Qualifizierter Hinweis vom 7. Februar 2023 [BP9], S. 10).

Aus Sicht einer Fachperson kamen für ein In-situ-Multiplex-Detektionsverfahren als Analyten neben den ausdrücklich in D6 genannten DNA-Molekülen auch RNA-Moleküle sowie Proteine und Peptide in Betracht sowie Kombinationen davon (vgl. auch D6, Abstract: „The decoding

strategy is generic in that the target can be any biomolecule which has been encoded into a DNA circle via a molecular probing reaction und S. 7: „However, any biomolecule that can be represented as a DNA circle can be converted to an easily identifiable ASM. Padlock probes can be applied for gene-copy number analysis, as well as analysis of infectious pathogens and for mRNA expression. Also proteins or interacting pairs of proteins can be digitally monitored in this manner via the proximity ligation assay“).

cc) Der Umstand, dass die Antragsgegnerinnen ihre Argumente für das Fehlen einer erfinderischen Tätigkeit erst in der mündlichen Verhandlung des Berufungsverfahrens vorgetragen haben, verstößt nach Auffassung des Berufungsgerichts im vorliegenden Fall nicht gegen Regel 222.1 VerfO. Obwohl die Antragsgegnerinnen in der Berufungsbegründung ihre Argumente zum Hilfsantrag ausschließlich auf die Zulässigkeit des Antrags konzentrierten, beantragten sie darin ausdrücklich einen “richterlichen Hinweis”, falls ein Vortrag zum Inhalt des Antrags erforderlich sein sollte. Auch in Anbetracht der Tatsache, dass es sich um die erste Berufungssache handelt, in der über Hilfsanträge und Regel 222.1 entschieden wird, hat das Gericht in der mündlichen Verhandlung den Parteien den Hinweis gegeben, sich auch zur Rechtsbeständigkeit von Patentanspruch 1 in der Fassung des Hilfsantrags zu äußern. Da die Argumentation zur mangelnden Erfindungshöhe des Hilfsantrages weitgehend der Argumentation zur Erfindungshöhe des Hauptantrages entspricht, wurden die Antragsteller hierdurch auch nicht unangemessen benachteiligt.

7.

Als unterlegene Partei haben die Antragsteller die Kosten des Verfahrens zu tragen.

8.

Da die Entscheidung über die Kosten keinen unmittelbar vollstreckbaren Inhalt hat, kann auch nicht deren sofortige Vollstreckbarkeit angeordnet werden. Der Antrag der Antragsgegnerinnen ist insoweit abzuweisen.

39

ANORDNUNGEN

  1. Auf die Berufung der Antragsgegnerinnen werden die Anordnungen des Gerichts erster Instanz (Lokalkammer München) aufgehoben und der Antrag der Antragsteller auf Erlass einer einstweiligen Verfügung abgewiesen.
  2. Die Antragsteller haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.
  3. Der Antrag der Antragsgegnerinnen, die Anordnung unter 2. für sofort vollstreckbar zu erklären, wird abgewiesen.
  4. Der Streitwert wird auf 7 Millionen EUR festgesetzt.

Klaus Grabinski

Präsident des Berufungsgerichts und

Berichterstatter

Françoise Barutel

rechtlich qualifizierte Richterin

Peter Blok

rechtlich qualifizierter Richter

Rainer Friedrich

technisch qualifizierter Richter

Cornelis Schüller

technisch qualifizierter Richter

Eurico Igreja

Angestellter der Kanzlei