Unified Patent Court

Hamburg - Lokalkammer

Einheitliches Patentgericht

Juridiction unifiee du brevet

UPC_CFI_559935/2023

Entscheidung

des Gerichts erster Instanz des Einheitlichen Patentgerichts

erlassen am 25. Januar 2024

Leitsatz: Zur Zulässigkeit eines Antrags auf Überprüfung einer dem Einspruch stattgebenden Entscheidung der Berichterstatterin durch den Spruchkörper nach Regel 333 VerfO

Schlagwörter: stattgebende Einspruchsentscheidung, Berichterstatter, Überprüfung nach Regel 333 VerfO

Eingangsdatum der Klage: 08.08.2023

STREITPARTEIEN

Fives ECL, SASVertreten durch Konstantin Schallmoser
(Klägerin) – 100 rue Chalant – 59790 Ronchin - Frankreich
REEL GmbHVertreten durch Dr. Benjamin Schröer
(Beklagte) – Rudolf Diesel Straße 1 – 97209 Veitshöchheim – Deutschland

ENTSCHEIDENDE RICHTER:

Vorsitzende Richterin, Berichterstatterin: Sabine Klepsch

Rechtlich qualifizierter Richter: Dr. Stefan Schilling

Rechtlich qualifizierte Richterin: Mojca Mlakar

VERFAHRENSSPRACHE:

Deutsch

GEGENSTAND DES VERFAHRENS:

Festsetzung von Schadensersatz

KURZE DARSTELLUNG DES SACHVERHALTS:

Mit Klageschrift vom 8. August 2023, eingegangen nach Regel 4.2 VerfO in Papierform bei der Lokalkammer Hamburg am gleichen Tag, erhob die Klägerin Klage auf Festsetzung von Schadensersatz. Vorausgegangen ist zwischen den hiesigen Parteien – neben weiteren Beklagten – ein Patentverletzungsverfahren vor dem Landgericht Düsseldorf, Aktenzeichen 4c O 1/21. In diesem Verfahren wurde die Beklagte (dortige Beklagte zu 1)) mit Urteil vom 9. August 2022 unter anderem dazu verurteilt, es zu unterlassen, Service-Module für eine Reihe von Elektrolysezellen, die für die Herstellung von Aluminium durch Schmelzflusselektrolyse bestimmt sind, und die mit den Merkmalen von Patentanspruch 1 des deutschen Teils des EP 1 740 740 B1 (nachfolgend: Streitpatent) ausgestattet sind, in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten. In dem genannten Urteil wurde zudem festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin allen Schaden zu ersetzen, der ihr durch die in Ziffer I.1. näher bezeichneten, seit dem 2. Dezember 2016 begangenen Handlungen entstanden ist und noch entstehen wird. Das Urteil ist rechtskräftig. Keine der Parteien hat Berufung eingelegt.

Die Beklagte erhob mit Schriftsatz vom 6. Oktober 2023 Einspruch nach Regel 19 VerfO analog und machte geltend, dass das angerufene Gericht für die Entscheidung über die Festsetzung von Schadensersatz nicht zuständig sei.

Mit Entscheidung vom 17. November 2023 gab die Berichterstatterin dem Einspruch statt. Hiergegen richtete sich die Klägerin mit Schriftsatz vom 4. Dezember 2023 und begehrte eine Überprüfung der Entscheidung durch den gesamten Spruchkörper analog Regel 331.1, 333.4 VerfO.

Der Beklagten wurde Gelegenheit zur Stellungnahme zum Antrag auf Überprüfung der Entscheidung unter Verlängerung der Frist bis zum 12. Januar 2024 eingeräumt.

ANTRÄGE DER PARTEIEN:

Die Klägerin beantragt:

  1. Die Entscheidung der Berichterstatterin vom 17. November 2023 wird dem gesamten Spruchkörper analog Regel 331.1, 333.4 VerfO zur umgehenden Überprüfung gestellt.
  2. Die Entscheidung über den Einspruch vom 17. November 2023 wird analog Regel 335 VerfO aufgehoben und das Einspruchsverfahren wird vor dem gesamten Spruchkörper fortgeführt.
  3. Es wird eine Zwischenanhörung durchgeführt.
  4. Der Einspruch der Antragsgegnerin wird zurückgewiesen.

Die Beklagte beantragt:

  1. Der Überprüfungsantrag wird als unzulässig zurückgewiesen.
  2. Die Antragsgegnerin trägt auch die weiteren Kosten des Rechtsstreits, soweit diese durch den Überprüfungsantrag ausgelöst wurden.
  3. hilfsweise,
  4. Die Entscheidung der Berichterstatterin vom 17. November 2023 wird bestätigt und der Überprüfungsantrag zurückgewiesen.
  5. Die Antragsgegnerin trägt auch die weiteren Kosten des Rechtsstreits, soweit diese durch den Überprüfungsantrag ausgelöst wurden.

GRÜNDE DER ANORDNUNG:

Der Antrag auf Prüfung durch den gesamten Spruchkörper gegen einen stattgebenden Einspruch durch den Berichterstatter ist unzulässig. Gegen einen stattgebenden Einspruch ist nach Regel 21.1 VerfO die Berufung gemäß Regel 220.1(a) VerfO bei einer der in Regel 220.1(a) oder (b) VerfO genannten Entscheidungen statthaft. Bei einer stattgebenden Einspruchsentscheidung handelt es sich um eine nach Regel 220.1(a) VerfO. Für eine Anwendbarkeit – direkt oder analog – von Regel 333.1 VerfO besteht kein Raum.

1.a)

Regel 333.1 VerfO findet keine direkte Anwendung. Denn Regel 333.1 VerfO gilt nur für „verfahrensleitende Entscheidungen oder Anordnungen“. Die Entscheidung, deren Überprüfung die Klägerin beantragt, ist nicht verfahrensleitend. Aus dem Begriff „verfahrensleitend“ ergibt sich, dass die Entscheidung keine Endentscheidung und damit nicht „verfahrensbeendend“ sein darf (Tilmann/Plassmann/Chakraborty/Dormann, Unified Patent Protection in Europe, R. 333 VerfO Rn. 4). Dies bestätigen die in Regel 332 VerfO aufgezählten Beispiele für die Verfahrensleitung. Keine der dort genannten verfahrensleitenden Maßnahmen ist verfahrensbeendend oder eine Entscheidung zur Zulässigkeit oder Begründetheit der Klage bzw. des Antrags. Verfahrensleitend sind vielmehr.

Entscheidungen und Maßnahmen, die das Verfahren auf dem Weg zur Entscheidung betreffen, nicht die Entscheidung über die Zulässigkeit oder Begründetheit der Klage bzw. des Antrags selbst. Die vorliegende Endentscheidung, mit der das Verfahren durch die Zurückweisung des Antrags beendet wurde, unterfällt folglich nicht dem Anwendungsbereich von Regel 333 VerfO.

Auch über Regel 102.2 VerfO, auf welchen die Klägerin verweist, findet Regel 333 VerfO vorliegend keine Anwendung. Denn auch Regel 102 VerfO gilt nur für verfahrensleitende Aufgaben des Berichterstatters, insbesondere im Zwischenverfahren. Da die Entscheidung, deren Überprüfung beantragt wird, weder verfahrensleitend war noch im Zwischenverfahren, sondern im schriftlichen Verfahren ergangen ist, findet Regel 102.2 VerfO keine Anwendung.

b)

Auch eine analoge Anwendung von Regel 333.1 VerfO kommt vorliegend nicht zum Tragen. Es besteht weder eine planwidrige Regelungslücke noch eine vergleichbare Interessenslage. Nach Ansicht der Klägerin sei es mit dem EPGÜ unvereinbar, wenn der Berichterstatter eine Klage oder einen Antrag auf einen Einspruch hin abweise, wenn nicht die Möglichkeit der Überprüfung dieser Entscheidung durch den gesamten Spruchkörper bestehe. Entsprechendes ergebe sich aus Art. 8 Abs. 1 EPGÜ, der allgemein bestimme, dass alle Spruchkörper des Gerichts erster Instanz multinational zusammengesetzt sind.

Dies überzeugt nicht. Denn vorliegend steht nicht die Frage der Zusammensetzung des Spruchkörpers im Streit, sondern die Frage, welche Entscheidungen vom gesamten Spruchkörper zu treffen sind und welche vom Berichterstatter allein. Art. 8 Abs. 1 EPGÜ trifft keine Aussage dahingehend, dass alle Entscheidungen über die Zulässigkeit oder Begründetheit einer Klage oder eines Antrags stets vom gesamten Spruchkörper getroffen werden müssen. Das EPGÜ bestimmt vielmehr in Art. 41 EPGÜ, dass gerade die Verfahrensordnung die Einzelheiten und damit auch Entscheidungskompetenz regelt. Regel 20 VerfO sieht hierbei ausdrücklich vor, dass der Berichterstatter über den Einspruch entscheidet. Insofern besteht kein Widerspruch zu Art. 8 Abs. 1 EPGÜ gerade auch deshalb, da die Zuständigkeit des Berichterstatters für verfahrensabschließende Entscheidungen im Falle eines stattgebenden Einspruchs auf die in Regel 19.1 lit a) bis c) VerfO enumerierten Fälle beschränkt ist. Nur für diese steht dem Berichterstatter die Kompetenz zu einer ggfs. verfahrensabschließenden Entscheidung zu, welche ansonsten dem Spruchkörper insgesamt obliegt.

Der Verordnungsgeber hat dem Berichterstatter damit eine eingeschränkte Entscheidungskompetenz für die in Regel 19 Abs. 1 VerfO vorgesehenen Fälle zugewiesen, welche gerade nicht durch den Spruchkörper entschieden werden müssen. Entsprechend sieht auch Art. 19 Abs. 2 EPGS, auf welchen die Beklagte zutreffend verweist, vor, dass die VerfO vorsehen kann, dass bestimmte Aufgaben vom Spruchkörper auf einen Richter übertragen werden können, was gerade im Einklang mit der zum Einspruch nach Regel 19 ff. VerfO geregelten Zuständigkeit steht.

Ein unterlegener Einspruchsgegner ist insofern auch nicht rechtlos gestellt. Denn gegen eine dem Einspruch stattgebende Entscheidung ist unmittelbar die Berufung nach Regel 220 Abs. 1 lit. a) VerfO statthaft. Dem Berufungsgericht wird dadurch unmittelbar die Kompetenz zugewiesen, die Entscheidung auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. Nichts anderes würde erfolgen, wenn der gesamte Spruchkörper eine verfahrensabschließende Entscheidung getroffen hätte.

Eine planwidrige Regelungslücke ist daher nicht zu erkennen.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Entstehungsgeschichte der VerfO. Die Klägerin bezieht sich insoweit auf Anmerkungen der an der Vorbereitung der VerfO beteiligten Personen. Diesen Anmerkungen entnimmt die Klägerin, dass diese der Auffassung gewesen seien, dass Regel 333.1 VerfO auf eine dem Einspruch stattgebende Entscheidung direkt Anwendung findet. Dies kann allerdings den von der Klägerin in Bezug genommenen Anmerkungen nicht entnommen werden. Die Kommentare sind sehr knapp und machen den konkreten Zusammenhang, in welchem sie stehen, nicht deutlich. Insofern kann nicht festgestellt werden, dass damit zum Ausdruck gebracht werden sollte, dass Regel 333.1 VerfO in Fällen wie dem vorliegenden direkt Anwendung finden solle. Es wird insoweit nur von einer Entscheidung gesprochen, die nicht näher konkretisiert wird. Es ist daher denkbar, worauf auch die Beklagte verweist, dass damit die Entscheidung des Berichterstatters gemeint ist, ob über den Einspruch isoliert oder gemeinsam mit der Hauptsache entschieden wird. Denn hierbei handelt es sich um eine verfahrensleitende Maßnahme, die tatsächlich Regel 333.1 VerfO unterfallen könnte.

Selbst wenn die Kommentare dahingehend verstanden werden sollten, dass auch Entscheidungen des Berichterstatters, mit der dem Einspruch stattgegeben wird, Gegenstand eines Antrags nach Regel 333.1 VerfO sein können, begründet dies keine Analogie. Denn es fehlt an der zweiten Voraussetzung für eine Analogie, einer vergleichbaren Interessenlage. Die in Regel 20.1, 21.1 VerfO geregelte Interessenlage einer einspruchsstattgebenden Entscheidung des Berichterstatters ist mit der in Regel 333.1 VerfO angesprochenen Interessenlage bei verfahrensleitenden Entscheidungen oder Anordnungen nicht vergleichbar. Regel 333.1 VerfO sieht eine (sofortige) Überprüfungsmöglichkeit gerade deshalb vor, weil die isolierte Berufung gegen die überwiegende Zahl verfahrensleitender Entscheidungen und Anordnung als Rechtsmittel nicht zur Verfügung steht. Da sie nicht im Katalog der Regel 220.1 VerfO aufgeführt sind, kann gegen sie nur zusammen mit der Endentscheidung Berufung eingelegt werden (Regel 220.1 Alt. 1 VerfO). Ohne die Überprüfungsmöglichkeit nach Regel 333.1 VerfO bestünde folglich die Gefahr, dass der Prozess auf Grundlage einer verfahrensleitenden Entscheidung oder Anordnung durchgeführt wird, die sich nachträglich – im Rahmen der Berufung gegen die Endentscheidung – als rechtswidrig herausstellt. Das gesamte erstinstanzliche Verfahren müsste daher erneut durchgeführt werden. Dieses Problem

stellt sich nicht, indem dem Einspruch stattgegeben und der Antrag zurückgewiesen wurde. Der Klägerin steht gemäß Regel 21.1, Regel 220.1 lit. (a) VerfO die Berufung unmittelbar zur Verfügung.

c)

Die Entscheidung der Lokalkammer Helsinki vom 28. August 2023 – UPC_CFI_214/2023 – steht diesem Verständnis nicht entgegen. Denn die dortige Entscheidung des gesamten Spruchkörpers war bedingt durch die Verfahrenssituation. Die Klägerin/Antragstellerin des dortigen Verfahrens hatte sowohl Klage wegen vermeintlicher Patentverletzung erhoben als auch Antrag auf einstweilige Maßnahmen gestellt. In beiden Verfahren legte die Beklagte/Antragsgegnerin inhaltsgleich Einspruch unter Berufung auf die mangelnde Zuständigkeit des EPG ein. Der Berichterstatter bestimmte dann wie folgt zu verfahren: Es wurde eine mündliche Verhandlung anberaumt, die der Entscheidung über den Antrag auf einstweilige Maßnahmen dienen sollte. Dort sollte auch über den Einspruch gegen den Antrag verhandelt werden. Da der Einspruch inhaltsgleich auch gegen die Klage erhoben worden war, sollten beide Einsprüche bei dieser Gelegenheit zusammen verhandelt werden. Weil die mündliche Verhandlung über den Antrag auf einstweilige Maßnahmen vor dem gesamten Spruchkörper stattfand, hatte dieser auch über den Einspruch zu entscheiden, eine Option, die bereits Regel 20.2 VerfO vorsieht.

Insgesamt kann daher festgestellt werden, dass der Antrag der Klägerin auf Überprüfung der Entscheidung der Berichterstatterin vom 17. November 2023 durch den gesamten Spruchkörper nicht statthaft ist.

2.

Die Durchführung einer Zwischenanhörung ist nicht geboten. Zwischen den Parteien im Streit stehen lediglich Rechtsfragen, über welche sich die Parteien umfangreich schriftsätzlich ausgetauscht haben. Es ist nicht zu erkennen, dass eine Zwischenanhörung neue Gesichtspunkte zu Tage treten ließe.

3.

Vorliegend handelt es sich um eine Entscheidung des Spruchkörpers, Regel 333.5 VerfO, welche unter den Voraussetzungen der Regel 220.2 VerfO mit der Berufung angegriffen werden kann. Da die Klägerin mit ihrem Antrag unterlegen ist und es sich um eine Entscheidung handelt, die grundlegende Fragen des Verständnisses der VerfO betrifft, wird die Zulassung der Berufung als sachdienlich erachtet.

ENDGÜLTIGE ANORDNUNG:

1.

Der Antrag auf Überprüfung der Entscheidung der Berichterstatterin vom 17. November 2023 durch den Spruchkörper wird als unzulässig zurückgewiesen.

2.

Eine Zwischenanhörung wird nicht durchgeführt.

3.

Die Klägerin trägt die Kosten des Überprüfungsverfahrens.

4.

Die Berufung wird zugelassen.

Erlassen am 25. Januar 2024

Vorsitzende Richterin/Berichterstatterin Sabine Klepsch

Rechtlich qualifizierter Richter Dr. Stefan Schilling

Rechtlich qualifizierte Richterin Mojca Mlakar

Information über die Berufung:

Gegen die vorliegende Anordnung kann jede Partei, die ganz oder teilweise in ihren Anträgen erfolglos war, zusammen mit der Berufung gegen die Endentscheidung des Gerichts erster Instanz in der Hauptsache Berufung eingelegt werden, oder - nach Zulassung der Berufung durch das Gericht erster Instanz - binnen 15 Tagen nach Zustellung der entsprechenden Entscheidung Berufung durch jede Partei, die ganz oder teilweise in ihren Anträgen erfolglos war, eingelegt werden (Art. 73 Abs. 2 b), Regel 220.2, 224.1 (b), 333.5 VerfO).