Unified Patent Court
Einheitliches Patentgericht
EPG Berufungsgericht
Jurisdiction unifiée du brevet
UPC_CoA_205/2024
APL_24585/2024
ANORDNUNG
des Berufungsgerichts des Einheitlichen Patentgerichts erlassen am 6 August 2024 über die Zustellung einer Klageschrift an die Beklagten in China (R.273 und R.274 VerfO)
LEITSATZ
- Einer beklagten Gesellschaft in China kann eine Klageschrift nicht ohne weiteres über eine Gesellschaft desselben Konzerns in einem Vertragsmitgliedstaat zugestellt werden. Eine solche Konzerngesellschaft kann weder zwangsläufig als satzungsmäßiger Sitz, Hauptverwaltung oder Hauptniederlassung einer beklagten Gesellschaft in China angesehen werden, noch als Ort, an dem die beklagte Gesellschaft einen dauerhaften oder vorübergehenden Geschäftssitz hat. Zustellungsversuche in China nach dem Haager Zustellungsübereinkommen gemäß R.274.1(a)(ii) VerfO müssen in der Regel erfolgen, bevor die Zustellung nach dem Recht des Staates, in dem die Zustellung erfolgen soll (R.274.1(b) VerfO) oder durch alternative Verfahren oder an einem alternativen Ort (R.275 VerfO) zulässig ist.
SCHLAGWÖRTER
- Zustellung, Verordnung (EU) 2020/1784, Haager Zustellungsübereinkommen, Zustellung außerhalb der Vertragsmitgliedstaaten
BERUFUNGSKLÄGER (UND KLÄGER IM HAUPTVERFAHREN VOR DEM GEI)
Nera Innovations Ltd. mit Sitz in Dublin, Irland (nachstehend “Nera Innovations”)
vertreten durch: Rechtsanwalt Dr. Thomas Adam (Peterreins Schley)
BERUFUNGSBEKLAGTE (1 UND 2; NICHT ZUGESTELLT, 3 UND 4; BEKLAGTE IM HAUPTVERFAHREN VOR DEM GEI)
| 1. | Xiaomi Communications Co, Ltd. Peking, China | |
|---|---|---|
| 2. | Xiaomi Inc. Peking, China | |
| 3. | Xiaomi Technology Netherlands B.V., Den Haag, Niederlande (nachstehend Xiaomi NL) | vertreten durch: Rechtsanwältin Eva Acker (Freshfields Bruckhaus Deringer Rechtsanwälte) |
| 4. | Xiaomi Technology Germany GmbH, Düsseldorf, Deutschland (nachstehend Xiaomi DE) | vertreten durch: Rechtsanwältin Eva Acker (Freshfields Bruckhaus Deringer Rechtsanwälte) |
VERFAHRENSSPRACHE
Deutsch
SPRUCHKÖRPER UND ENTSCHEIDENDE RICHTERINNEN
Diese Anordnung wurde von dem zweiten Spruchkörper erlassen, der aus den folgenden Mitgliedern besteht:
- Rian Kalden, Vorsitzende Richterin und rechtlich qualifizierte Richterin
- Ingeborg Simonsson, rechtlich qualifizierte Richterin und Berichterstatterin
- Patricia Rombach, rechtlich qualifizierte Richterin
BEANSTANDETE ANORDNUNG DES GERICHTS ERSTER INSTANZ
- Datum: 24. April 2024
- Anordnung der Lokalkammer Hamburg: ORD_22417/2024 betreffend ACT_19746/2024, in dem Verletzungsverfahren UPC_CFI_173/2024; in der Anordnung wurde die Berufung zugelassen.
MÜNDLICHE VERHANDLUNG
- Juni 2024
STREITPATENT
EP 2 642 632
STREITPUNKTE
Zustellung einer Klageschrift an Beklagte in China
ZUSAMMENFASSUNG DER FAKTEN
- Nera Innovations erhob beim Gericht erster Instanz, Lokalkammer Hamburg, eine Verletzungsklage gegen die Beklagten 1 bis 4. Nach den Angaben in der Klageschrift haben die Beklagten 1 und 2 (im Folgenden gemeinsam als die chinesischen Xiaomi-Gesellschaften bezeichnet) ihren Sitz in China, während die Beklagten 3 und 4 (Xiaomi NL und Xiaomi DE) ihren Sitz in den Niederlanden bzw. in Deutschland haben.
- Nera Innovations hat beantragt, dass die Zustellung der Klageschrift an die chinesischen Xiaomi-Gesellschaften gemäß R.271.5(a) VerfO an Xiaomi DE erfolgen sollte.
- Die Lokalkammer Hamburg wies den Antrag von Nera Innovation zurück. Nach Auffassung der Lokalkammer sei R.271.5 VerfO (noch) nicht anwendbar. Da die chinesischen Xiaomi-Gesellschaften ihren Sitz außerhalb des Hoheitsgebiets der Vertragsstaaten des EPGÜ hätten und diese Gesellschaften weder ihren satzungsgemäßen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder Hauptniederlassung noch ihren eigenen dauerhaften oder vorübergehenden Geschäftssitz in den Vertragsstaaten des EPGÜ hätten, müsse die Zustellung nach R.273 und R.274 VerfO erfolgen. Diese Bestimmungen erforderten zumindest einen ersten Zustellungsversuch gemäß
R.274.1(a)(ii) VerfO nach dem Übereinkommen über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke im Ausland in Zivil- oder Handelssachen vom 15. November 1965 (im Folgenden: „Haager Zustellungsübereinkommen“), da die Volksrepublik China nicht in den Geltungsbereich der Verordnung (EU) 2020/1784 fiele, aber Vertragspartei des Haager Zustellungsübereinkommens sei. Das Haager Zustellungsübereinkommen setze voraus, dass die betreffenden Schriftstücke nach einem Verfahren gemäß Artikel 15 Absatz 2 Buchstabe a des Zustellungsübereinkommens tatsächlich übermittelt worden seien. Ein Zustellungsversuch und eine tatsächliche Übermittlung seien unabdingbare Voraussetzungen für eine Entscheidung in der Sache.
4.
Nera Innovations hat gegen diese Anordnung Berufung eingelegt.
5.
Da den chinesischen Xiaomi-Gesellschaften die Klageschrift nicht zugestellt worden ist, sind sie noch nicht Parteien des Verfahrens vor dem EPG geworden. Das Berufungsgericht hat diesen Gesellschaften die Berufung folglich nicht zur Kenntnis gebracht. Eine solche Mitteilung würde außerdem die Zustellung der Berufungsschrift und anderer Schriftstücke erfordern, und die bei der Wahl der Zustellungsart getroffenen rechtlichen Bewertungen würden dem Ergebnis der im Berufungsverfahren aufgeworfenen Fragen vorgreifen und die Entscheidung vorwegnehmen.
6.
Mit Zustimmung der Parteien wurde die Sache in englischer Sprache zusammen mit der Sache APL_21602/2024, UPC_CoA_183/2024, einer ähnlichen Sache, die die Zustellung in China und Taiwan betrifft, verhandelt.
7.
In der mündlichen Verhandlung hat Nera Innovations den Hilfsantrag gestellt, das Berufungsgericht möge anordnen, dass die Zustellung der Klageschrift an Xiaomi DE eine rechtsgültige Zustellung an die chinesischen Xiaomi-Gesellschaften darstellt, wobei als Zustellungsort die in der Klageschrift angegebene Anschrift von Xiaomi DE gilt, dass die Klageschrift den chinesischen Xiaomi-Gesellschaften am Tag der Zustellung an Xiaomi DE als zugestellt gilt (Hilfsantrag: am Tag der Entscheidung des Berufungsgerichts), und dass die Frist für die Einreichung der Klageerwiderung für die chinesischen Xiaomi-Gesellschaften mit dem Tag der Zustellung der Klageschrift an Xiaomi DE (hilfsweise: am Tag der Entscheidung des Berufungsgerichts) begonnen hat.
8.
Diese Hilfsanträge wurden vom Berufungsgericht in der mündlichen Verhandlung zurückgewiesen. Die Hilfsanträge wurden erst in der mündlichen Verhandlung gestellt. Nera Innovations war nicht in der Lage zu begründen, warum die Hilfsanträge vernünftigerweise nicht früher hätten gestellt werden können, und ihre Zulassung würde den Interessen der Gegenpartei zuwiderlaufen (R.222.2 VerfO).
ANTRÄGE DER PARTEIEN
-
Nera Innovations beantragt, die beanstandete Anordnung aufzuheben und die Lokalkammer Hamburg anzuweisen, die Klageschrift den chinesischen Xiaomi-Gesellschaften über Xiaomi DE zuzustellen.
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Xiaomi NL und Xiaomi DE beantragen, dass das Berufungsgericht die Berufung zurückweist und Nera Innovations die Kosten des Berufungsverfahrens auferlegt.
VORBRINGEN DER PARTEIEN
Nera Innovations hat – zusammengefasst und soweit relevant – wie folgt argumentiert:
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Die Verweise auf die Verordnung (EU) 2020/1784 in der Verfahrensordnung betreffen nur das Verfahren der Zustellung, nicht aber die Frage, ob die Zustellung nur zwischen den Vertragsmitgliedstaaten des EPG erfolgen soll. R.271 VerfO regele den Prozess der Zustellung innerhalb des EPGÜ-Territoriums, wobei nur der Ort der beantragten Zustellung maßgeblich sei, nicht der tatsächliche Hauptsitz des Beklagten.
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Die Frage, ob die Zustellung im Ausland (d.h.: außerhalb des EPGÜ-Territoriums) zu erfolgen habe, lasse das Haager Zustellungsübereinkommen offen und sei nach der lex fori und damit nach demjenigen Recht zu entscheiden, das in der Jurisdiktion des Gerichts gelte, bei dem die Klage erhoben worden sei.
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Das Haager Zustellungsübereinkommen sei daher kein Recht, das zwingend auf jegliche Zustellungskonstellation anzuwenden sei, die irgendeinen Auslandsbezug aufweise. Das Haager Zustellungsübereinkommen sehe keine Verpflichtung zur Zustellung im Ausland vor. Maßgeblich für die Frage sei daher das lex fori, d.h. das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht, in diesem Fall das EPGÜ und die Verfahrensordnung.
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R.271.5(a) VerfO sei weit gefasst und erlaube die Zustellung nach einer zweiten Kategorie, nämlich „an jedem anderen Ort innerhalb der Vertragsmitgliedstaaten, an dem die Gesellschaft oder andere juristische Person einen dauerhaften oder vorübergehenden Geschäftssitz hat“. Die Bestimmung sei auch in einem weiteren Aspekt weit gefasst, denn sie beziehe sich auch auf jeden nur „vorübergehenden“ Geschäftssitz. Letzteres dürfte Messefälle betreffen, bei denen ein ausländischer Beklagter seine Waren für einen begrenzten Zeitraum innerhalb der Vertragsmitgliedstaaten ausstelle.
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Der Wortlaut von R.275.1(a) VerfO sei unzweideutig, d.h. jede Partei, die eine Gesellschaft sei (im Gegensatz zu natürlichen Personen, die R.275.1(b) VerfO behandele), könne unabhängig davon, ob sie im EPGÜ-Territorium niedergelassen sei oder nicht, an jedem Ort im EPGÜ-Territorium zugestellt werden, an dem diese Partei einen „Geschäftssitz“ habe, wobei dieser Geschäftssitz entweder dauerhaft oder auch nur vorübergehend sein könne.
16.
R.271.5(a) VerfO sei auf Zustellungen an eine eigenständige juristische Person, wie eine Tochtergesellschaft, anwendbar, wenn die Bestimmung gemäß Art. 7 Abs. 5 der Brüsseler 1a-Verordnung (Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen) ausgelegt werde. Gemäß dieser Bestimmung könne eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats habe, in einem anderen Mitgliedstaat vor dem Gericht des Ortes, an dem sich diese befinde, verklagt werden, wenn es sich um Streitigkeiten aus dem Betrieb einer Zweigniederlassung, einer Agentur oder einer sonstigen Niederlassung handele.
17.
Xiaomi DE fungiere als die dauerhafte Betriebsstätte der chinesischen Xiaomi-Gesellschaften, da sie mit ihnen im Wege eines zentral gesteuerten Vertriebs funktional zusammenwirke.
18.
Die chinesischen Xiaomi-Gesellschaften würden über Xiaomi DE zuverlässige Kenntnis von der Existenz und dem Inhalt der Klageschrift erlangen, wenn die Klageschrift über Xiaomi DE zugestellt werde.
19.
Xiaomi NL und Xiaomi DE haben – zusammengefasst und soweit relevant – wie folgt argumentiert: Die Entscheidung der Lokalkammer Hamburg halte einer rechtlichen Überprüfung stand. Die Abgrenzung zwischen Abschnitt 1 und Abschnitt 2 von Teil 5 Kapitel 2 der Verfahrensordnung sei nach dem satzungsmäßigen Sitz (Hauptsitz) der Beklagten vorzunehmen. Die Anwendbarkeit von R.271.5(a) VerfO setze richtigerweise voraus, dass der Hauptsitz des Beklagten innerhalb der Vertragsmitgliedstaaten liegen müsse.
20.
Der Wortlaut von R.271.5(a) VerfO bestärke die von der Lokalkammer Hamburg vertretene Auffassung, ebenso eine systematische Auslegung sowie der Zweck der Regelung, welcher in der Verhinderung einer Umgehung der ausländischen Zustellungsregel bestehe.
21.
Auch eine Auslegung unter Berücksichtigung der europarechtlichen und völkerrechtlichen Vorgaben gebiete den Hauptsitz des Beklagten als maßgeblich für die Abgrenzung anzusehen, ob eine Zustellung innerhalb (im Sinne der Regeln 270 ff. VerfO) oder außerhalb (im Sinne der Regeln 273 f. VerfO) der Vertragsmitgliedstaaten erfolgen müsse, und nicht den Ort der Zustellung.
22.
Nur die Vertragsstaaten des EPGÜ seien durch diese Regelungen rechtlich gebunden. Sei eine Zustellung außerhalb eines EPGÜ-Vertragsmitgliedstaates vorzunehmen, seien ausschließlich die in dem Empfängerstaat geltenden internationalen Zustellungsabkommen anzuwenden, da der Empfängerstaat sein für Zustellungen geltendes Recht nicht durch ein Zustimmungsgesetz zum EPGÜ modifiziert habe. Zur Wahrung der Souveränität von Staaten beim Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrages sowie zum Schutz des Zustellungsempfängers sei bei der
Bestimmung des einschlägigen völkerrechtlichen Zustellungs-Abkommens daher einheitlich auf den Hauptsitz des Beklagten abzustellen. Art. 7 Abs. 5 der Brüssel-Ia-Verordnung führe zu keinem anderen Ergebnis. Selbst wenn man sich auf die Argumentation von Nera Innovations einließe, sei nicht ersichtlich, warum die Definition des Begriffs „Sitz“ mit den Begriffen „Zweigniederlassung, Agentur oder insbesondere Niederlassung“ aus Art. 7 Nr. 5 Brüssel-Ia-VO übereinstimmen sollte.
-
Die effektive Rechtsdurchsetzung werde durch die Beachtung der internationalen Vorschriften über die Zustellung im Ausland nicht in Frage gestellt. Artikel 15 Absatz 2 Buchstabe a des Haager Zustellungsübereinkommens setze voraus, dass die betreffenden Schriftstücke tatsächlich nach einem im Übereinkommen vorgesehenen Verfahren übermittelt worden seien.
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R.271 VerfO sei nicht anwendbar, da es sich bei den chinesischen Xiaomi-Gesellschaften um Beklagte handele, die ihren Sitz in der Volksrepublik China und damit außerhalb der Vertragsmitgliedstaaten hätten. Stattdessen gälten für sie die R.273 bis 274 VerfO.
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Allein die hiesige Konzernstruktur rechtfertige noch keine Wissenszurechnung.
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Xiaomi DE sei kein dauerhafter oder vorübergehender Geschäftssitz der chinesischen Xiaomi-Gesellschaften. Es handele sich jeweils um eigenständige juristische Personen, die mit unterschiedlichen Organen agierten. Xiaomi DE sei eine eigenständige Gesellschaft mit eigenständiger Rechtspersönlichkeit, die nach deutschem Recht gegründet worden sei, und eine Tochtergesellschaft von Xiaomi NL.
GRÜNDE
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Die Vorschriften über die Zustellung von Schriftstücken sollen im Wesentlichen sicherstellen, dass das Gericht vor Erlass eines Versäumnisurteils prüfen kann, ob die Mittel, mit denen ein verfahrenseinleitendes Schriftstück zugestellt wurde, so beschaffen waren, dass die Verteidigungsrechte gewahrt wurden (Rechtssache C-14/07, Weiss und Partner, ECLI:EU:C:2008:264, Rn. 51).
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Insoweit ist festzustellen, dass die Gewährleistung eines tatsächlichen und wirksamen Zugangs der Schriftstücke, d. h. ihre Zustellung an den Beklagten, sowie genügend Zeit für die Vorbereitung seiner Verteidigung erforderlich sind, um das in Art. 47 der Charta verbürgte Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz zu wahren. Eine Ermächtigung der Tochtergesellschaft, im Namen ihrer Muttergesellschaft an sie gerichtete gerichtliche Schriftstücke in Empfang zu nehmen, kann nämlich nicht vermutet werden, denn sonst bestünde die Gefahr einer Verletzung der Verteidigungsrechte der Muttergesellschaft (vgl. Urteil des EuGH vom 11. Juli 2024 in der Rechtssache C-632/22 Volvo (Assignation au siège d’une filiale de la défenderesse), ECLI:EU:C:2024:601, Rn. 50-51).
29.
Artikel 24(1)(d) des Übereinkommens über ein Einheitliches Patentgericht (EPGÜ) sieht vor, dass das Gericht seine Entscheidungen auf andere internationale Übereinkünfte stützt, die für Patente gelten und für alle Vertragsmitgliedstaaten bindend sind. Die Bestimmungen der Verfahrensordnung über die Zustellung von Schriftstücken sind dementsprechend im Einklang mit dem EU-Recht und dem Haager Zustellungsübereinkommen ausgestaltet.
30.
Das Verhältnis zwischen der Verordnung 2020/1784 und dem Haager Zustellungsübereinkommen wird in Artikel 29 der Verordnung 2020/1784 mit der Überschrift „Verhältnis zu Übereinkünften oder Vereinbarungen zwischen Mitgliedstaaten“ angesprochen: Die Verordnung hat in ihrem Anwendungsbereich Vorrang vor anderen Bestimmungen in den von Mitgliedstaaten geschlossenen bilateralen oder multilateralen Übereinkünften oder Vereinbarungen, insbesondere dem Haager Zustellungsübereinkommen, und zwar im Verhältnis der Mitgliedstaaten, die Vertragsparteien dieser Übereinkünfte sind (Hervorhebung hinzugefügt). Artikel 15 des Haager Zustellungsübereinkommens ist darüber hinaus gemäß Artikel 28 Absatz 4 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen anwendbar, wenn die Verordnung 2020/1784 nicht anwendbar ist und wenn das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück gemäß diesem Übereinkommen ins Ausland zu übermitteln ist.
31.
Dem Haager Zustellungsübereinkommen sind alle EU-Mitgliedstaaten beigetreten. Obwohl das Übereinkommen keine Klausel enthält, die der EU selbst den Beitritt erlaubt, fällt der Beitritt zum Übereinkommen in die ausschließliche Außenkompetenz der EU nach der Annahme EU-interner Vorschriften über die Zustellung von Unterlagen (siehe z. B. Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Ermächtigung Österreichs und Maltas, dem Haager Zustellungsübereinkommen beizutreten, COM/2013/0338 final). Das Übereinkommen, das die Übermittlung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke ins Ausland vereinfacht, ist für die EU und ihre Mitgliedstaaten besonders wichtig, weil es die justizielle Zusammenarbeit bei grenzüberschreitenden Rechtsstreitigkeiten in den Beziehungen zu Drittstaaten erleichtert. Die EU hat in ihren Außenbeziehungen den Beitritt von Drittstaaten zum Haager Zustellungsübereinkommen als effizientes und zuverlässiges System für die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Unterlagen gefördert (COM/2013/0338 final).
32.
Daraus wird deutlich, dass die Verordnung 2020/1784 zwar für innergemeinschaftliche Zustellungen gedacht ist, für die Übermittlung gerichtlicher Schriftstücke ins Ausland bei grenzüberschreitenden Rechtsstreitigkeiten in den Beziehungen zu Drittstaaten aber (soweit hier relevant) das Haager Zustellungsübereinkommen gilt. Dies spiegelt sich in der Verfahrensordnung wider.
33.
Obwohl es keine Definition dafür gibt, was eine Zustellung innerhalb bzw. außerhalb der Vertragsmitgliedstaaten ist, gibt es eine systematische Unterscheidung zwischen diesen.
beiden Arten von Zustellungen. Wie aus den Überschriften der Abschnitte 1 und 2 von Teil 5, Kapitel 2 der VerfO hervorgeht, wird die Zustellung innerhalb der Vertragsmitgliedstaaten durch die R.270 bis 272 VerfO geregelt. Die Zustellung außerhalb der Vertragsmitgliedstaaten ist hingegen durch die R.273 und 274 VerfO geregelt.
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Die Zustellung innerhalb der Vertragsmitgliedstaaten, in denen die Verordnung 2020/1784 gilt (R.270.1 VerfO), ist gemäß R.271.5(a) VerfO an folgendem Ort zu bewirken: wenn der Beklagte eine Gesellschaft oder eine andere juristische Person ist, an seinem satzungsmäßigen Sitz, seiner Hauptverwaltung oder dem Sitz seiner Hauptniederlassung innerhalb der Vertragsmitgliedstaaten oder an jedem anderen Ort innerhalb der Vertragsmitgliedstaaten, an dem die Gesellschaft oder andere juristische Person einen dauerhaften oder vorübergehenden Geschäftssitz hat (siehe auch R.278.2(a) und 278.3(a) VerfO).
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Aus dem Wortlaut von R.271.5(a) VerfO ergibt sich deutlich, dass sie nur für Zustellungen an Gesellschaften oder andere juristische Personen gilt, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung in den Vertragsmitgliedstaaten haben. Dies wird durch die Wahl der Formulierung im zweiten Teil des Satzes deutlich, in dem auf „die Gesellschaft“ Bezug genommen wird. Der Verweis auf „die Gesellschaft“ bezieht sich auf den ersten Teil des Satzes, in dem eine solche Gesellschaft definiert wird, d.h. eine Gesellschaft mit satzungsmäßigem Sitz, Hauptverwaltung oder Hauptniederlassung in den Vertragsmitgliedstaaten.
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Der Wortlaut des zweiten Teils von R.271.5(a) VerfO sieht somit Orte vor, an denen die Zustellung im EPG-Gebiet erfolgen kann, als Alternative zur Zustellung an eine Gesellschaft mit satzungsmäßigem Sitz, Hauptverwaltung oder Hauptniederlassung in den Vertragsmitgliedstaaten. Diese Bestimmung sieht also alternative Zustellungsorte für einen Beklagten vor, der im EPG-Gebiet ansässig ist. Die Zustellung kann dann an jedem anderen Ort innerhalb der Vertragsmitgliedstaaten erfolgen, an dem die Gesellschaft oder andere juristische Person einen dauerhaften oder vorübergehenden Geschäftssitz hat.
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Für die Zustellung einer Klageschrift außerhalb der Vertragsmitgliedstaaten kann die Kanzlei jedes Verfahren anwenden, das in folgenden Vorschriften vorgesehen ist: (i) das Recht der Europäischen Union über die Zustellung von Unterlagen in Zivil- und Handelssachen (Verordnung 2020/1784), sofern dieses anwendbar ist; (ii) das Haager Zustellungsübereinkommen oder ein anderes anwendbares Übereinkommen oder Vereinbarung, sofern dieses bzw. diese anwendbar ist; oder (iii) sofern kein solches Übereinkommen oder keine solche Vereinbarung in Kraft ist, entweder durch Zustellung auf diplomatischem oder konsularischem Weg von dem Vertragsmitgliedstaat aus, in dem die Nebenstelle der Kanzlei der betreffenden Kammer eingerichtet ist (R.274.1(a) VerfO).
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Der Verweis in R.274.1(a)(i) VerfO auf die Verordnung 2020/1784, soweit anwendbar, ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass nicht alle EU-Mitgliedstaaten
Die Zustellung in EU-Mitgliedstaaten, die keine Vertragsmitgliedstaaten sind, erfolgt in der Regel gemäß der Verordnung 2020/1784. R.274.1(a)(i) VerfO kann jedoch auch so verstanden werden, dass es materielle Beschränkungen für die Anwendbarkeit der Verordnung 2020/1784 gibt (siehe zum Beispiel Artikel 1 dieser Verordnung).
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R.274.1(b) VerfO sieht vor, dass die Zustellung auf jede Art und Weise erfolgen kann, die nach dem Recht des Staates, in dem die Zustellung bewirkt werden soll, zulässig ist oder vom Gericht genehmigt wurde, wenn die Zustellung gemäß R.274.1(a) VerfO nicht erfolgen konnte.
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Der Abschnitt 3 von Teil 5, Kapitel 2 der Verfahrensordnung befasst sich mit der Zustellung durch ein alternatives Verfahren. R.275 VerfO sieht für den Fall, dass eine Zustellung nach Abschnitt 1 oder 2 nicht vorgenommen werden konnte, vor, dass das Gericht auf Antrag des Klägers die Zustellung nach einem alternativen Verfahren oder an einem anderen Ort durch Anordnung zulassen kann, wenn es der Auffassung ist, dass gute Gründe dafür vorliegen, die Zustellung nach einem nach Kapitel 2 sonst nicht vorgesehenen Verfahren oder an einem nach diesem Kapitel sonst nicht vorgesehenen Ort zu gestatten (R.275.1 VerfO). Darüber hinaus kann das Gericht auf einen mit einer Begründung versehenen Antrag des Klägers anordnen, dass die Schritte, die bereits unternommen wurden, um dem Beklagten die Klageschrift nach einem alternativen Verfahren oder an einem anderen Ort zur Kenntnis zu bringen, eine rechtsgültige Zustellung darstellen (R.275.2 VerfO).
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Artikel 15 Absatz 2 des Haager Zustellungsübereinkommens sieht vor, dass es jedem Vertragsstaat freisteht zu erklären, dass seine Richter auch dann entscheiden können, wenn ein Zeugnis über die Zustellung oder die Übergabe nicht eingegangen ist, vorausgesetzt a) dass das Schriftstück nach einem im Übereinkommen vorgesehenen Verfahren übermittelt worden ist, b) dass seit der Absendung des Schriftstücks eine Frist verstrichen ist, die der Richter nach den Umständen des Falles als angemessen erachtet und die mindestens sechs Monate betragen muss, und c) dass trotz aller zumutbaren Schritte bei den zuständigen Behörden des ersuchten Staates ein Zeugnis nicht zu erlangen war.
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Aus Artikel 15 Absatz 2 des Haager Zustellungsübereinkommens ergibt sich, dass in der Regel versucht werden muss, die Klageschrift auf jede im Haager Zustellungsübereinkommen vorgesehene Art und Weise zuzustellen, bevor das Gericht die Zustellung auf eine andere Art und Weise oder an einem anderen Ort zulässt oder anordnet (R.274.1(b) und R.275 VerfO).
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Bei den chinesischen Xiaomi-Gesellschaften handelt es sich um Gesellschaften mit Sitz außerhalb der Vertragsmitgliedstaaten und außerhalb der EU. Wie ausgeführt, ist R.271.5(a) VerfO auf diese Gesellschaften nicht anwendbar. Das Berufungsgericht ist der Auffassung, dass einer beklagten Gesellschaft in China eine Klageschrift zunächst auch nicht über eine Gesellschaft desselben Konzerns in einem Vertragsmitgliedstaat zugestellt werden kann.
solche Konzerngesellschaft kann nicht ohne weiteres als satzungsmäßiger Sitz, Hauptverwaltung oder Hauptniederlassung einer beklagten Gesellschaft in China angesehen werden noch als Ort, an dem diese beklagte Gesellschaft einen dauerhaften oder vorübergehenden Geschäftssitz hat. Diese Auffassung wird durch den im nationalen Recht vorherrschenden Grundsatz der gesellschaftsrechtlichen Trennung gestützt, der auch eine Rechtsquelle für das Gericht bei der Auslegung der Verfahrensordnung durch das Gericht zu berücksichtigen ist (Art. 24(1)(e) EPGÜ).
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Das Berufungsgericht weist insoweit darauf hin, dass obwohl das Fehlen einer persönlichen Haftung der Gesellschafter zwar kein allgemeiner, unter allen Umständen und ausnahmslos geltender gesellschaftsrechtlicher Grundsatz ist (Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C-81/09, Idryma Typou, ECLI:EU:C:2010:622, Rn. 42), der gesellschaftsrechtliche Grundsatz der Haftungstrennung ein allgemeiner Grundsatz im Gesellschaftsrecht der Mitgliedstaaten ist, vor allem in Fragen der zivilrechtlichen Haftung im Zusammenhang mit Handelsgesellschaften, wie etwa Gesellschaften mit beschränkter Haftung oder Aktiengesellschaften (Schlussanträge der AG Kokott in der Rechtssache C-501/11 P, Schindler Holding u.a. gegen Kommission, ECLI:EU:C:2013:248, Rn. 65; bestätigt vom Europäischen Gerichtshof, Rechtssache C-501/11 P, Schindler Holding u.a. gegen Kommission, ECLI:EU:C:2013:522, Rn. 101).
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Dies führt zu der Schlussfolgerung, dass die Zustellung der Klageschrift an die chinesischen Xiaomi-Gesellschaften durch R.273 und R.274.1 VerfO geregelt ist. Die Verordnung 2020/1784 ist auf sie nicht anwendbar, was bedeutet, dass die Voraussetzungen für die Anwendung von R.274.1(a)(i) VerfO nicht erfüllt sind. Das Haager Zustellungsübereinkommen findet gegenüber den chinesischen Xiaomi-Gesellschaften Anwendung (R.274.1(a)(ii) VerfO).
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Aus den dargelegten Gründen kommt das Berufungsgericht zu dem Schluss, dass die Lokalkammer Hamburg den Antrag von Nera Innovations zu Recht zurückgewiesen hat.
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Dies schließt nicht aus, dass die Zustellung in einem späteren Stadium des Verfahrens auf andere oder alternative Weise erfolgen kann (R.274.1(b) und R.275 VerfO).
Kosten
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Über die Erstattung der Kosten des Rechtsstreits wird im Rahmen dieser Berufung nicht entschieden, da es sich bei der Anordnung des Berufungsgerichts nicht um eine endgültige Anordnung oder Entscheidung handelt, d. h. nicht um eine Anordnung oder Entscheidung, die das vor dem Gericht erster Instanz anhängige Verfahren abschließt.
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Die VerfO sieht vor, dass die grundsätzliche Entscheidung über die Verpflichtung, die Kosten des Rechtsstreits zu tragen in der Endentscheidung, insbesondere in der Entscheidung in der Hauptsache (R.118.5 VerfO), getroffen wird, gegebenenfalls in Verbindung mit einer vorläufigen Kostenerstattung (R.150.2 VerfO). Die Endentscheidung ist auch das beste
Verfahrensstadium, um zu beurteilen, ob und inwieweit eine Partei als unterlegen im Sinne von Art. 69 EPGÜ angesehen werden kann.
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Der in R.118.5 VerfO festgelegte Grundsatz, dass die Hauptentscheidung über die Kosten des Verfahrens in der abschließenden Anordnung oder Entscheidung getroffen wird, steht im Einklang mit R.150.1 VerfO, wonach die obsiegende Partei erst nach der Entscheidung in der Hauptsache eine Kostenentscheidung beantragen kann, d. h. eine Entscheidung über die Festsetzung der von der unterlegenen Partei zu tragenden Kosten (R.150.1 VerfO). Dieses Konzept wird auch dadurch bestätigt, dass die vom Verwaltungsausschuss festgelegte Skala der Obergrenzen für die erstattungsfähigen Kosten, die das Gericht bei der Festsetzung der Erstattung der Vertretungskosten zu berücksichtigen hat, Obergrenzen angibt, die auf dem Wert des gesamten Verfahrens beruhen (R.152.2 VerfO).
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Da dieser Grundsatz auch für die Berufung gilt, ist R.242.1 VerfO dahin auszulegen, dass das Berufungsgericht, weil es sich bei der Entscheidung des Berufungsgerichts nicht um eine abschließende Anordnung oder Entscheidung zum Abschluss eines Rechtsstreits handelt, im vorliegenden Fall keine Kostenentscheidung sowohl für das erstinstanzliche wie auch das Berufungsverfahren trifft. Der Ausgang des Berufungsverfahrens ist jedoch zu berücksichtigen, wenn das Gericht in der endgültigen Entscheidung über die vorliegende Klage bestimmt, ob und inwieweit eine Partei die Kosten der anderen Partei zu tragen hat, weil sie im Sinne von Art. 69 EPGÜ unterlegen ist.
ANORDNUNG
Die Berufung von Nera Innovations wird zurückgewiesen.
Erlassen am 6 August 2024
Rian Kalden, Vorsitzende Richterin und rechtlich qualifizierte Richterin
Ingeborg Simonsson, rechtlich qualifizierte Richterin und Berichterstatterin
Patricia Rombach, rechtlich qualifizierte Richterin