Unified Patent Court
Zentralkammer Paris
Einheitliches Patentgericht
Juridiction unifiee du brevet
Anordnung
des Gerichts erster Instanz des Einheitlichen Patentgerichts
Regel 360 VerfO
UPC_CFI_372/2023
ACT_580824/2023
erlassen am 16/05/2024
LeitsÀtze:
- Bei Erledigung der Hauptsache nach Regel 360 ist die Kostengrundentscheidung nach Regel 118.5 VerfO vom vollstÀndig besetzten Spruchkörper zu treffen.
- Die Regeln 370.9 (b) (i) VerfO sowie 370.9 (c) (i) VerfO sind im Falle des Patentverzichts analog anwendbar.
- FĂŒr die Erhebung einer Klage auf NichtigerklĂ€rung ist eine vorherige Abmahnung nicht stets erforderlich. Daraus lĂ€sst sich andererseits nicht schlieĂen, dass ein Verzicht auf eine vorherige Abmahnung keinerlei Konsequenzen fĂŒr die Kostenverteilung zwischen den Parteien hat, wenn der Patentinhaber in Reaktion auf die Nichtigkeitsklage sofort anerkennt bzw. auf das Patent verzichtet.
- Es ist im Allgemeinen unbillig, dem Patentinhaber, der in Reaktion und unter Verweis auf erstmals mit der Nichtigkeitsklage vorgelegten relevanten Stand der Technik sofort auf das Patent verzichtet, die Verfahrenskosten aufzuerlegen.
SchlĂŒsselwörter:
Erledigung; Verzicht auf das Patent; vorherige Verzichtsaufforderung; Kostengrundentscheidung
KLĂGERIN
StÀubli Tec-Systems GmbH,
Theodor-Schmidt-StraĂe 19,
95448 Bayreuth,
Deutschland
BEKLAGTE(R)
Vertreten durch:
Thomas Schart
Vertreten durch:
Dr. Stefan Golkowsky
STREITGEGENSTĂNDLICHES PATENT
Patentnr. EP 3 170 639 B1 Verfahren zur Steuerung der Geschwindigkeit und der Positionierung eines Werkzeugwechselwagens sowie Arbeitsstation fĂŒr eine mit auswechselbaren Werkzeugen bestĂŒckte Maschine
Hinweis auf die Patenterteilung: 07.07.2021 Patentblatt 2021/27
Anmeldetag: 02.11.2016 PrioritÀt: 17.11.2015 DE 20 2015 106 216 U1
Inhaber:
ENTSCHEIDENDE RICHTER
Zusammensetzung des Spruchkörpers:
- Vorsitzender Richter: Maximilian Haedicke
- Berichterstatterin: Tatyana Zhilova
- Technisch qualifizierter Richter: Dennis Kretschmann
VERFAHRENSSPRACHE: Deutsch
ANHĂRUNG VOM: 18/04/2024
KURZE DARSTELLUNG DES SACHVERHALTS
- Am 18. Oktober 2023 reichte die KlĂ€gerin bei der Zentralkammer Paris eine Klage auf NichtigerklĂ€rung des Patents EP3170639 gegen die beiden Beklagten ein. Die Nichtigkeitsklage wurde unter dem Aktenzeichen ACT_580824/2023 (UPC_CFI_372/2023) gefĂŒhrt.
1.1. In Bezug auf den Stand der Technik wurden folgende Dokumente vorgelegt:
- Anlage A8: PrioritÀtsgebrauchsmuster DE 20 2015 106 216 U1, eingetragen am 11. Februar 2016, erteilt an die Beklagten
- Anlage A10: WO 2013/102507 A1 vom 11. Juli 2013
- Anlage A11: CN 103612649 A vom 5. MĂ€rz 2014
- Anlage A13: DE 196 46 180 A1 vom 14. Mai 1998
- Anlage A14: DD 277 641 A1 vom 11. April 1990
- Anlage A15: DE 195 12 681 A1 vom 10. Oktober 1996
- Anlage A16: Anleitung des Sensors AMS 301i der Firma Leuze aus dem Jahr 2014
- Anlage A17: Anleitung des Sensors AMS 300i der Firma Leuze aus dem Jahr 2011
- Anlage A18: Spanische BroschĂŒre der EAS Change Systems, 2.4.2015
- Anlage A19: Screenshot der PDF-Eigenschaften der Anlage A18
- Anlage A21: Screenshots eines YouTube-Videos von Leuze Australia
- Anlage A22: Fotos von der Messe K-2016 zur offenkundigen Vorbenutzung
- Anlage A23: Zeugenaussage mit eidesstattlicher Versicherung von
Video Links
- Video V1: https://www.youtube.com/watch?v=Wo3zeUzdLGQ vom 6.1.2012
- Video V2: https://www.youtube.com/watch?v=vN9TdnhL7hE vom 23.7.2013
- Video V3: https://www.youtube.com/watch?v=7MlT_NirGyM vom 21.11.2013
1. Vorprozessualer Schriftverkehr
Im vorprozessualen Schriftverkehr mit den Beklagten hat die KlÀgerin die RechtsbestÀndigkeit des Streitpatents bestritten. Die vorprozessuale Korrespondenz besteht aus:
- Anlage A2: Schreiben der Patentinhaber vom 3.11.2022;
- Anlage A3: Antwortschreiben an die Patentinhaber vom 29.11.2022 inklusive Anlagen;
- Anlage A4: Schreiben der Patentinhaber vom 9.01.2023;
- Anlage A5: Antwortschreiben an die Patentinhaber vom 24.01.2023 (die KlÀgerin identifiziert den Brief in der Aufstellung der Unterlagen mit Datum 25.01.23);
- Anlage A6: Schreiben der Patentinhaber vom 15.02.2023.
Dabei wurde die Nichtigkeit des Patents mit den folgenden Dokumenten begrĂŒndet:
- PrioritÀtsgebrauchsmuster DE 20 2015 106 216 (Anlage A8);
- D1: US 2011/192353 A1, D2: DE 20 2005 019797 U1 und D3: DE 20 2008 004609 U1, die im Erteilungsverfahren berĂŒcksichtigt wurden (hier nicht vorgelegt);
- Katalog der EAS Change Systems vom 2. Oktober 2015;
- EP 2 306 428 B1 (hier nicht vorgelegt);
- Bild von der Messe K-2016 (Anlage A22).
2. Stellungnahme der Beklagten
In der vorprozessualen Korrespondenz haben die Beklagten bestritten, dass sich die behauptete NichtpatentfĂ€higkeit aus den vorgelegten Dokumenten ergebe. Im Schreiben vom 09.01.2023 (A4) haben die Beklagten eine auĂergerichtliche Einigung vorgeschlagen, die beispielsweise in einer LizenzgewĂ€hrung liegen könne. Im Schreiben vom 15.02.2023 (A6) machen die Beklagten die KlĂ€gerin darauf aufmerksam, dass das bestehende Patent respektiert werden mĂŒsse.
3. Klageerwiderungen
Mit ihren Klageerwiderungen vom 16. und 22. November 2023 haben die Beklagten unter Verweis auf die neuen und ihrer Meinung nach entscheidenden Beweismittel A10 bis A23 sowie Videos V1 bis V3 die Klage auf NichtigerklÀrung anerkannt und auf das Patent im vollen Umfang ex tunc verzichtet. Der Widerruf des Patents im EuropÀischen Patentblatt 09/2024 wurde am 28. Februar 2024 bekannt gemacht.
4. Schriftliches Verfahren
Im Rahmen des schriftlichen Verfahrens vor dem EPG haben beide Parteien ĂŒbereinstimmend die Hauptsache fĂŒr erledigt erklĂ€rt (Regel 360 VerfO). WĂ€hrend der Anhörung am 18. April 2024 haben beide Parteien ihre ErklĂ€rungen bestĂ€tigt und beantragt, die Erledigung der Hauptsache durch Erlass einer verfahrensbeendenden Anordnung nach Regel 360 VerfO festzustellen.
5. Streitwert und Kosten
Die Parteien streiten noch ĂŒber den Streitwert sowie darĂŒber, wer die Kosten zu tragen hat. Beide Parteien haben vorlĂ€ufige KostenschĂ€tzungen gemÀà Regel 118.5 VerfO vorgelegt, und ihnen wurde rechtliches Gehör gewĂ€hrt (App_14965/2024).
KostenantrÀge der Parteien
1. Antrag der KlÀgerin
- die GerichtsgebĂŒhren gem. Regel 370.9 (b) (i) VerfO (analog) sowie nach Regel 370.9 (c) (i) VerfO (analog) um 60% zu reduzieren,
- den Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen,
- den Streitwert auf Euro 500.000 festzusetzen.
2. Die Beklagten beantragen:
- die GerichtsgebĂŒhren gem. Regel 370.9 (b) (i) VerfO (analog) sowie nach Regel 370.9 (c) (i) VerfO (analog) um 60% zu reduzieren,
- der KlĂ€gerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen, und hilfsweise eine GebĂŒhrenermĂ€Ăigung von 40% gemÀà R. 370.8 VerfO (analog) fĂŒr die Beklagten, falls dem Antrag der Kostenauferlegung auf die KlĂ€gerin nicht stattgegeben werden sollte,
- den Streitwert auf höchstens Euro 250.000 festzusetzen.
STREITIGE PUNKTE
1. Die KlÀgerin ist der Auffassung, dass:
- die Beklagten sich durch die VerzichtserklÀrung in die Rolle der kostenbelasteten Unterlegenen begeben hÀtten;
- sich aus den Rechtsgrundlagen des EPG keine Pflicht ergebe, vor Erhebung einer Nichtigkeitsklage den Patentinhaber zum Verzicht aufzufordern, was sich insbesondere auch aus dem Fehlen einer der Regel 61.1 VerfO entsprechenden Regelung fĂŒr das Nichtigkeitsverfahren ergebe;
- BilligkeitsgrĂŒnde es geböten, den Beklagten die Kosten aufzuerlegen, denn:
- den Beklagten seien die entscheidenden Beweismittel bereits vor der Klageerhebung bekannt gewesen;
- die Beklagten hÀtten der KlÀgerin vorprozessual zu verstehen gegeben, dass eine vorherige Verzichtsaufforderung erfolglos sei;
- die neuen Beweismittel zum Stand der Technik, vorgelegt mit der Klage, seien noch relevanter;
- zum Zeitpunkt der Klageerhebung sei die KlÀgerin nicht verpflichtet gewesen, alle relevanten Beweismittel zum Stand der Technik vorzulegen;
- hĂ€tte die KlĂ€gerin die Beklagten vorprozessual zum Verzicht aufgefordert, hĂ€tten die Beklagten das Streitpatent der ZustĂ€ndigkeit des Einheitlichen Patentgerichts (per Opt-out-ErklĂ€rung) entzogen, wodurch der KlĂ€gerin die Möglichkeit des kostengĂŒnstigeren, effektiveren Zentralangriffs vor dem EPG genommen worden wĂ€re;
- die KlĂ€gerin habe aufgrund der vorgerichtlichen Berechtigungsanfrage der Beklagten jederzeit mit einer Unterlassungsklage rechnen mĂŒssen;
- der Streitwert aufgrund des Einsatzes der patentgemĂ€Ăen Technologie in vielen unterschiedlichen Industriebereichen und aufgrund der territorialen Reichweite von sechs EPG-Vertragsstaaten mindestens Euro 500.000 betragen mĂŒsse.
2. Die Beklagten sind der Auffassung, dass:
- sie der KlÀgerin keine Veranlassung zur Erhebung der vorliegenden Nichtigkeitsklage gegeben hÀtten, denn:
- aus dem Patent seien keine Rechte geltend gemacht worden und eine Verletzungsklage, sowie auch Unterlassungs- und Schadenersatzforderungen gegenĂŒber der KlĂ€gerin seien nicht erhoben worden;
- die KlĂ€gerin habe den Beklagten vor Klageerhebung nicht die Möglichkeit gegeben, den relevantesten Stand der Technik (spĂ€ter recherchierte Beweismittel A10 bis A23 sowie V1 bis V3) zu prĂŒfen; wenn die KlĂ€gerin dies getan hĂ€tte, hĂ€tten die Beklagten auf das Patent verzichtet, und eine Nichtigkeitsklage wĂ€re unnötig gewesen;
- die Darstellung der KlĂ€gerin, sie habe die Gefahr einer Unterlassungsklage mit einer Nichtigkeitsklage schnell beseitigen mĂŒssen, ĂŒberzeuge nicht, da die KlĂ€gerin bis zur
2.2.
das Fehlen einer der Regel 61.1 VerfO entsprechenden Regelung fĂŒr das Nichtigkeitsverfahren nicht ausschlieĂe, dass die KlĂ€gerin im Falle eines sofortigen Anerkenntnisses aus BilligkeitsgrĂŒnden die Kosten tragen mĂŒsse;
2.3.
die KlĂ€gerin unnötige Kosten fĂŒr eine Doppelvertretung durch PatentanwĂ€lte und RechtsanwĂ€lte erzeugt habe, die angesichts des Patentverzichts nicht notwendig gewesen seien;
2.4.
ein angemessener Streitwert maximal Euro 250.000 betrage.
BEGRĂNDUNG DER ANORDNUNG
1. Entscheidungsbefugnis
Die Entscheidung nach Regel 360 VerfO und Regel 118.5 VerfO ist vom Spruchkörper zu treffen.
2. Erledigung der Hauptsache
Stellt das Gericht fest, dass eine Klage gegenstandslos geworden ist und die Erledigung der Hauptsache eingetreten ist, kann es nach Regel 360 VerfO die Klage jederzeit auf Antrag einer Partei oder von Amts wegen per Anordnung zum Abschluss bringen. Das im deutschen Text der Regel 360 VerfO verwendete Verb âabweisenâ stellt nicht den besten Ausdruck fĂŒr die Beendigung des Verfahrens dar, da es den Eindruck erweckt, dass die Klage unbegrĂŒndet war. Daher bevorzugt der Spruchkörper, das bereits in der Praxis der Lokalkammer MĂŒnchen eingefĂŒhrte Verb âabtragenâ zu verwenden, um damit den unzutreffenden Eindruck zu vermeiden, dass die beklagte Partei kraft der âAbweisungâ obsiegt hĂ€tte (Anordnung Nr. ORD_577734/2023, erlassen am 19/12/2023, ACT_550921/2023, UPC_CFI_249/2023)
Vorliegend sind sich beide Parteien zu Recht darĂŒber einig, dass die Voraussetzungen der Regel 360 VerfO vorliegen. Die Erledigung ist festzustellen, und das Verfahren betreffend die Nichtigkeitsklage ist abzutragen.
3. RĂŒckerstattung der GerichtsgebĂŒhren
Haben die Parteien ihr Verfahren durch Vergleich beendet, erhĂ€lt die zur Zahlung der GerichtsgebĂŒhren verpflichtete Partei gemÀà Regel 370.9 (c) (i) VerfO eine RĂŒckerstattung in der Höhe von 60 %, wenn das Verfahren vor Abschluss des schriftlichen Verfahrens erledigt wird. Eine RĂŒckerstattung in derselben Höhe erhĂ€lt diese Partei auch, wenn die Klage vor Abschluss des schriftlichen Verfahrens zurĂŒckgenommen wird (Regel 370.9 (b) (i) VerfO).
FĂŒr die Erledigung der Hauptsche durch Patentverzicht fehlen entsprechende Vorschriften. Der Verzicht auf das Patent und die Vereinbarung der Parteien, die Klage aus GrĂŒnden der Regel 360 abzutragen, ist im Wesentlichen einer vergleichsweisen Beendigung des Verfahrens oder einer KlagerĂŒcknahme vergleichbar. Die Aussicht auf eine teilweise RĂŒckerstattung der GerichtsgebĂŒhren ermuntert die Parteien, ihren Streit auf anderem Wege als durch eine Entscheidung des Spruchkörpers beizulegen. Die RĂŒckerstattung trĂ€gt darĂŒber hinaus der Arbeitsersparnis des Gerichts Rechnung. Diese GrĂŒnde treffen auf den Patentverzicht in Ă€hnlicher Weise wie auf den Vergleich und die KlagerĂŒcknahme zu. Daher sind die Regel 370.9 (c) (i) VerfO und Regel 370.9 (b) (i) VerfO analog anwendbar. Da der Rechtsstreit vor dem Abschluss des schriftlichen Verfahrens erledigt wurde, erhĂ€lt die KlĂ€gerin eine RĂŒckerstattung der GerichtsgebĂŒhren in Höhe von 60%.
4. Streitwert
Der Streitwert ist, wie von der KlÀgerin vorgeschlagen, auf ⏠500.000,00 festzusetzen, weil die Beklagten hiergegen der Kammer keine abweichenden oder besseren Erkenntnisse zum Streitwert vorgelegt haben.
5. Obergrenze fĂŒr erstattungsfĂ€hige Kosten
Bei einem Streitwert in Höhe von ⏠500.000,00 betrĂ€gt die Obergrenze fĂŒr die erstattungsfĂ€higen Kosten (Vertretungskosten) ⏠56.000,00 (Anhang zum Art. 1 des Beschlusses des Verwaltungsausschusses vom 24. April 2023 zur Tabelle der Obergrenzen fĂŒr erstattungsfĂ€hige Kosten).
6. Kostentragung
6.1.
Nach Art. 69 (1) EPGĂ werden die Kosten des Rechtsstreits und sonstige Kosten der obsiegenden Partei, soweit sie zumutbar und angemessen sind, bis zu einer gemÀà der Verfahrensordnung festgelegten Obergrenze von der unterlegenen Partei getragen, sofern BilligkeitsgrĂŒnde dem nicht entgegenstehen.
Obsiegt eine Partei nur teilweise oder liegen auĂergewöhnliche UmstĂ€nde vor, so kann das Gericht nach Art. 69 Absatz 2 EPGĂ anordnen, dass die Kosten nach Billigkeit verteilt werden oder die Parteien ihre Kosten selbst tragen. Eine Partei, die dem Gericht oder einer anderen Partei unnötige Kosten verursacht hat, soll diese nach Absatz 3 tragen.
6.2.
Die Pflicht, ĂŒber die Kosten dem Grunde nach zu entscheiden, ist fĂŒr das Hauptsacheverfahren in Regel 118.5 VerfO geregelt. FĂŒr die Erledigung der Hauptsache im Sinne der Regel 360 VerfO fehlt eine entsprechende Vorschrift. Daher ist insoweit Regel 118.5 VerfO entsprechend anzuwenden.
6.3.
Die Abtragung der Klage beruht vorliegend auf auĂergewöhnlichen UmstĂ€nden, nĂ€mlich der Erledigung des Rechtsstreits aufgrund des sofortigen Patentverzichts durch die Beklagten und deren Anerkennung der Nichtigkeitsklage.
6.4.
Durch ihren umfassenden Verzicht auf das Patent haben sich die Beklagten in die Rolle der Unterliegenden begeben, und sie mĂŒssten demnach grundsĂ€tzlich die Verfahrenskosten tragen. Allerdings ist nach Art. 69 Absatz 2 und 3 EPGĂ zu prĂŒfen, ob die Billigkeit eine abweichende Zuordnung der Kosten erfordert. Insbesondere ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, ob die Beklagten durch ihr Verhalten Veranlassung zur Erhebung der Nichtigkeitsklage gegeben haben.
6.5.
Aus dem Vortrag der Parteien und der vorgelegten vorprozessualen Korrespondenz gemÀà den Anlagen A2 bis A6 ist nicht ersichtlich, dass die KlĂ€gerin die Beklagten ultimativ zum Verzicht auf das Patent aufgefordert hĂ€tte. Die VerfO verlangt eine solche Verzichtsaufforderung vor der Erhebung einer Klage auf NichtigerklĂ€rung auch nicht. Darin, dass sich die Verfahrensordnung zum möglichen Erfordernis einer Verzichtsaufforderung nicht verhĂ€lt, ist keine ungewollte LĂŒcke in der VerfO zu erblicken. Der Verzicht auf das Erfordernis einer entsprechenden Aufforderung kann sinnvoll und interessengerecht sein. Die Verzichtsaufforderung kann den Entzug des Patents aus der ZustĂ€ndigkeit des EPG durch das Opt-out-Verfahren provozieren und auf diese Weise den Zugang zur zentralisierten Gerichtsbarkeit in allen LĂ€ndern, fĂŒr die das Patent gilt, verhindern. GestĂŒtzt werden kann dieses Ergebnis auch auf Artikel 83(3) EPGĂ, der das Vorliegen einer bereits bei Gericht eingereichten Klage als das einzige Hindernis fĂŒr den Entzug des Patents (Opt-
6.6.
Eine analoge Anwendung von Regel 61.1 VerfO, die als Voraussetzung fĂŒr negative Feststellungsklagen grundsĂ€tzlich eine Abmahnung fordert, kommt nicht in Betracht. Regel 61.1 VerfO bezieht sich auf eine Klage auf Feststellung der Nichtverletzung und legt materielle ZulĂ€ssigkeitsvoraussetzungen fest.
Die Feststellung, dass eine Handlung keine Patentverletzung darstellt, kann unter zwei alternativen UmstĂ€nden getroffen werden: 1) Wenn der Patentinhaber oder Lizenznehmer geltend gemacht hat, dass die Handlung eine Patentverletzung darstellt, oder 2) wenn der KlĂ€ger den Patentinhaber oder den Lizenznehmer schriftlich um eine schriftliche BestĂ€tigung im Sinne der beanspruchten Feststellung gebeten hat und der Patentinhaber oder Lizenznehmer diese BestĂ€tigung innerhalb eines Monats nicht erteilt, bzw. verweigert hat. Nach Regel 63 (a) muss eine Klage auf Feststellung der Nichtverletzung Angaben enthalten, die bestĂ€tigen, dass die Voraussetzungen der Regel 61 erfĂŒllt sind. Diese ausdrĂŒcklich genannten UmstĂ€nde dienen zum Nachweis eines rechtlichen Interesses und ergeben sich auch aus dem Grundprinzip, dass jede Zivilklage einen zivilrechtlichen Anspruch oder zumindest ein schutzwĂŒrdiges rechtliches Interesse benötigt.
FĂŒr die Klage auf NichtigerklĂ€rung enthĂ€lt weder das EPGĂ noch die VerfO derartige Vorschriften, die anordnen, dass ein konkretes rechtliches Interesse nachzuweisen sei.
Da in der Regelung ĂŒber die Klage auf NichtigerklĂ€rung keine planwidrige LĂŒcke besteht, kommt eine analoge Anwendung von Regel 61.1 VerfO nicht in Betracht.
6.7.
Andererseits lĂ€sst sich aus dem Fehlen einer der Regel 61.1 VerfO entsprechenden Regelung nicht schlieĂen, dass ein Verzicht auf eine vorherige Abmahnung keinerlei Konsequenzen fĂŒr die Kostenverteilung zwischen den Parteien hat, wenn der Patentinhaber in Reaktion auf die Nichtigkeitsklage sofort anerkennt bzw. auf das Patent verzichtet. Denn die Regel 61.1 VerfO betrifft nur die materiellen ZulĂ€ssigkeitsvoraussetzungen, nicht die Kostenverteilung.
6.8.
Wie aus dem Vorbringen der Parteien und den vorgelegten Unterlagen hervorgeht, sind die Parteien Wettbewerber auf demselben Markt und stehen seit 2022 bezĂŒglich der Nutzung und der GĂŒltigkeit des Patents in schriftlichem Kontakt. Folglich ist die KlĂ€gerin von dem Patent betroffen, und es kommt darauf an, ob die Beklagten der KlĂ€gerin Anlass zur Erhebung der Klage gegeben haben.
Die Beklagten sind den von der KlÀgerin in der vorprozessualen Korrespondenz genannten Argumenten gegen den Rechtsbestand des Patents entgegengetreten. Sie haben den fehlenden Rechtsbestand des Patents dann allerdings erst auf Basis des erstmals in der Klageschrift genannten Stands der Technik anerkannt und unmittelbar auf das Patent verzichtet.
Die von der KlĂ€gerin in der vorprozessualen Korrespondenz (Anlagen A3 und A5) genannten Argumente gegen die RechtsbestĂ€ndigkeit beruhen wesentlich auf der behaupteten Unwirksamkeit der PrioritĂ€t des Patents, wodurch das PrioritĂ€tsgebrauchsmuster A8 vorveröffentlicht sei und es dem Patent an Erfindungshöhe gegenĂŒber dem PrioritĂ€tsgebrauchsmuster fehle. Eine behauptete offenkundige Vorbenutzung eines Werkzeugwechseltisches der StĂ€ubli GmbH hing wiederum an der Wirksamkeit der PrioritĂ€t. Die KlĂ€gerin verwies zudem auf angeblich mangelnde Erfindungshöhe gegenĂŒber einem Produktkatalog der EAS Change Systems, dessen Datierung die Beklagten jedoch anzweifelten. Zudem verwies die KlĂ€gerin auf aus dem europĂ€ischen Erteilungsverfahren.
bekannte Dokumente D1 und D2 und machte mangelnde erfinderische TĂ€tigkeit in Zusammenschau mit einem weiteren Dokument EP 2 306 428 B1 geltend.
DemgegenĂŒber wurde erstmals in der Nichtigkeitsklage das Dokument A13 zitiert, das als druckschriftlicher Stand der Technik zuverlĂ€ssig datierbar ist, dessen Relevanz als Stand der Technik nicht von der Wirksamkeit der PrioritĂ€t des Patents abhĂ€ngt und das in der Nichtigkeitsklage als neuheitsschĂ€dlich behauptet wurde. Daher wurde jedenfalls offensichtlich sehr wesentlicher Stand der Technik erstmals mit der Nichtigkeitsklage vorgelegt.
Die Beklagten können vor diesem Hintergrund plausibel argumentieren, dass sie den Verzicht schon vor Klageerhebung erklĂ€rt hĂ€tten, wenn ihnen bereits im vorprozessualen Schriftverkehr der in der Klageschrift neu genannte Stand der Technik genannt worden wĂ€re. Der Hinweis im Schreiben vom 15.02.2023 (Anlage A6), dass das Patent so lange respektiert werden mĂŒsse, bis seine Nichtpatentierbarkeit bewiesen sei, kann in diesem Sinne interpretiert werden, da die Beklagten zuvor erklĂ€rt haben, dass sie eine auĂergerichtliche Einigung anstreben wĂŒrden. DemgegenĂŒber lĂ€sst sich aus dem Hinweis entgegen der Argumentation der KlĂ€gerinnen nicht schlieĂen, dass eine vorherige Verzichtsaufforderung, insbesondere unter Verweis auf weiteren relevanten Stand der Technik, ohnehin nichts gefruchtet hĂ€tte und daher von vorneherein aussichtslos gewesen wĂ€re.
6.9.
Im vorliegenden Fall hĂ€tte die KlĂ€gerin ihren aufgrund neuer Recherchen zusĂ€tzlich aufgefundenen Stand der Technik den Beklagten ohne weiteres noch vor Klageerhebung zur Kenntnis bringen und die Reaktion darauf abwarten können. Ein nennenswerter Zeitverlust wĂ€re damit nicht verbunden gewesen, insbesondere nicht im VerhĂ€ltnis zur bereits verstrichenen Dauer der zwischen den Parteien gefĂŒhrten Verhandlungen. Eine Nichtigkeitsklage wĂ€re damit erst dann veranlasst gewesen, wenn die Beklagten auch in dieser neuen Situation uneinsichtig geblieben wĂ€ren.
6.10.
Eine vorherige Verzichtsaufforderung erscheint auch nicht im Hinblick auf einen möglicherweise dadurch veranlassten Opt-Out unzumutbar.
WĂ€hrend des Ăbergangszeitraums können die Patentinhaber unter den zusĂ€tzlichen Voraussetzungen des Art. 83 (3) EPGĂ jederzeit einen Opt-Out erklĂ€ren. Die zugrundeliegende AbwĂ€gung, ob ein solcher Opt-Out sinnvoll ist, obliegt den Patentinhabern. Umgekehrt obliegt der NichtigkeitsklĂ€gerin die RisikoabwĂ€gung, welche MaĂnahmen der Patentinhaber sie mit einer Verzichtsaufforderung möglicherweise auslöst und ob eine vorherige Verzichtsaufforderung vor diesem Hintergrund taktisch sinnvoll erscheint.
GrundsÀtzlich erscheint ein Opt-Out jedenfalls aus Sicht der Patentinhaber nicht nur vorteilhaft. Denn zwar hÀtten sie damit einen zentralen Rechtsbestandsangriff vermieden, möglicherweise aber auch eine Mehrzahl nationaler Rechtsbestandsangriffe provoziert und sich zudem der Möglichkeit beraubt, ihr Patent in einem zentralen Verletzungsverfahren durchzusetzen.
6.11.
Sowohl ist der KlĂ€gerin grundsĂ€tzlich darin zuzustimmen, dass sie nicht verpflichtet ist, alle Beweise, auf die sie ihre Klage stĂŒtzen möchte, im Voraus anzugeben. Allerdings mĂŒssen dabei die GrundsĂ€tze des fairen und gerechten Verfahrens beachtet werden. Insbesondere kann aus dem Fehlen einer Verpflichtung zur vorprozessualen Offenlegung des Stands der Technik nicht geschlossen werden, dass es sich nicht auf die Kostenverteilung auswirkt, wenn die KlĂ€gerin sich Stand der Technik fĂŒr die Nichtigkeitsklage aufsparen und die Patentinhaber in Anbetracht dieses neuen Stands der Technik die
Nichtigkeitsklage sofort anerkennen bzw. auf das Patent verzichten.
6.12.
Jedenfalls erscheint es in dieser Konstellation unbillig, den Patentinhabern, die in Reaktion und unter Verweis auf erstmals mit der Nichtigkeitsklage vorgelegten relevanten Stand der Technik sofort auf das Patent verzichtet haben, die Verfahrenskosten aufzuerlegen.
Ob es auf Seiten der KlĂ€gerin darĂŒber hinaus einer vorherigen ultimativen Verzichtsaufforderung bedurft hĂ€tte, um auch im Falle eines sofortigen Anerkenntnisses der Patentinhaber eine Pflicht zur Kostentragung auszuschlieĂen, kann daher dahingestellt bleiben.
6.13.
Billigerweise sind die Kosten des Verfahrens der KlÀgerin aufzuerlegen.
6.14.
Das Gericht geht nicht auf den Einwand der Beklagten gegen die Doppelvertretung der KlĂ€gerin ein, da er sich auf die Beurteilung der Angemessenheit der Kosten bezieht und fĂŒr diesen Punkt des Rechtsstreits irrelevant ist.
ANORDNUNG
- Es wird festgestellt, dass die Klage auf NichtigerklÀrung des Patents EP 3 170 639 B1 durch den Verzicht auf das Patent gegenstandslos geworden ist und sich die Hauptsache damit erledigt hat.
- Das Verfahren betreffend die Klage auf NichtigerklÀrung wird abgetragen.
- Die KlĂ€gerin erhĂ€lt eine RĂŒckerstattung der GerichtsgebĂŒhren in Höhe von 60%.
- Der Streitwert wird auf ⏠500.000,00 festgesetzt. Die Obergrenze fĂŒr die erstattungsfĂ€higen Kosten (Vertretungskosten) betrĂ€gt ⏠56.000,00.
- Die KlÀgerin trÀgt die Kosten des Verfahrens.
Vorsitzender Richter: Maximilian Haedicke
Berichterstatterin: Tatyana Zhilova
Technisch qualifizierter Richter: Dennis Kretschmann
INFORMATIONEN ĂBER DIE BERUFUNG
Beide Parteien können gegen diese Anordnung innerhalb von 2 Monaten nach ihrer Zustellung Berufung einlegen ( R. 363.2, 220.1(a), 224.1(a) VerfO ).
Unified Patent Court
Einheitliches Patentgericht
Juridiction unifiee du brevet