Unified Patent Court

Aktenzeichen: UPC_CoA_335/2023

APL_576355/2023

Anordnung

des Berufungsgerichts des Einheitlichen Patentgerichts

erlassen am 26.02.2024

in dem Verfahren auf Erlass einstweiliger Maßnahmen

betreffend das EP 4 108 782

LEITSATZ

Nach den Grundsätzen der Prozessökonomie und Kosteneffizienz sowie des fairen Ausgleichs zwischen den berechtigten Interessen der Parteien, die nach Art. 41 Abs. 3 EPGÜ bei der Auslegung der Regeln der Verfahrensordnung zu berücksichtigen sind, muss das Verfahren nach Regel 311.1 Satz 1 VerfO nicht ausgesetzt werden, wenn eine Partei erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung für insolvent erklärt wird und der Rechtsstreit entscheidungsreif ist.

SCHLAGWÖRTER:

Berufung, Insolvenz einer Partei.

ANTRAGSGEGNERINNEN und BERUFUNGSKLÄGERINNEN

  1. NanoString Technologies Inc.

530 Fairview Ave N - 98109 - Seattle (WA) – US 2. NanoString Technologies Germany GmbH

Birketweg 31 - 80639 - München – DE 3. NanoString Technologies Netherlands B.V.

Paasheuvelweg 25 - 1105BP - Amsterdam – NL

Vertreten durch: Rechtsanwalt Oliver Jan Jüngst, Bird & Bird LLP

ANTRAGSTELLER und BERUFUNGSBEKLAGTE

  1. 10x Genomics, Inc.

6230 Stoneridge Mall Road - 94588-3260 - Pleasanton (CA) – US 2. President and Fellows of Harvard College

Suite 727E, 1350 Massachusetts Avenue - 02138 - Cambridge (MA) – US

Vertreten durch: Rechtsanwalt Prof. Dr. Tilman Müller-Stoy, Bardehle Pagenberg Partnerschaft mbB

VERFÜGUNGSPATENT

EP 4108782

SPRUCHKÖRPER UND ENTSCHEIDENDE RICHTER

Erster Spruchkörper

  • Klaus Grabinski, Vorsitzender Richter und Berichterstatter
  • Françoise Barutel, rechtlich qualifizierte Richterin
  • Peter Blok, rechtlich qualifizierter Richter
  • Rainer Friedrich, technisch qualifizierter Richter
  • Cornelis Schüller, technisch qualifizierter Richter

VERFAHRENSSPRACHE

Deutsch

BEANSTANDETE ANORDNUNG

Anordnung („Entscheidung und Anordnungen“) des Gerichts erster Instanz (Lokalkammer München) vom 19.09.2023 – UPC CFI 2/2023

TATBESTAND UND ANTRÄGE DER PARTEIEN

Die Antragsteller und Berufungsbeklagten (nachfolgend Antragsteller) nehmen die Antragsgegnerinnen und Berufungsklägerinnen (nachfolgend Antragsgegnerinnen) im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes wegen unmittelbarer und mittelbarer Verletzung des europäischen Patents mit einheitlicher Wirkung (Einheitspatents) 4 108 782 (Verfügungspatent) auf Unterlassung in Anspruch. Die Antragsgegnerinnen sind als Unternehmensgruppe verbunden, wobei es sich um die amerikanische Muttergesellschaft, die deutsche Vertriebs- und Marketinggesellschaft und eine niederländische Gesellschaft, die auch die europäische Zentrale der Unternehmensgruppe unterhält, handelt.

Das Gericht erster Instanz hat dem entsprechenden Antrag der Antragsteller weitgehend entsprochen. Gegen diese Anordnung haben die Antragsgegnerinnen Berufung eingelegt. Die Antragsteller haben die Anordnung verteidigt.

Nach Durchführung des schriftlichen Verfahrens hat am 16. Dezember 2023 vor dem Berufungsgericht des Einheitlichen Patentgericht die mündliche Verhandlung über die Berufung stattgefunden.

Am 4. Februar 2024 haben alle Antragsgegnerinnen beim US-Bankruptcy Court für den Distrikt von Delaware gemeinsam mit einem ihrer Schwesterunternehmen einen Antrag auf die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens nach Chapter 11 Bankruptcy Code gestellt.

Auf Antrag der Antragsgegnerinnen hat dasselbe Gericht am 6. Februar 2024 eine Anordnung erlassen, die die weltweite automatische Durchsetzung, die Anti-Diskriminierungsvorschriften und den ipso facto Schutz der Sec. 362, 365, 525 und 541(c) Bankruptcy Code - nach bestimmten Maßgaben - bestätigt, wiederholt und durchsetzt (vgl. US Bankruptcy Court for the District of Delaware, B39).

Im Hinblick auf diese Entwicklung beantragen die Antragsteller, das Verfahren für eine vom Gericht zu bestimmende Zeit auszusetzen.

Die Antragsgegnerinnen stimmen dem Antrag zu, dass das Verfahren in jeder Hinsicht ausgesetzt werde, einschließlich, aber nicht beschränkt auf die Verkündung einer Entscheidung des Berufungsgerichts.

GRÜNDE DER ANORDNUNG

Die Anträge der Parteien auf Aussetzung des Verfahrens sind nicht begründet.

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Nach Regel 311(1) Satz 1 VerfO setzt das Gericht das Verfahren für bis zu drei Monate aus, wenn eine Partei nach dem für das Insolvenzverfahren geltenden Recht für insolvent erklärt wird.

Nach dem als lex fori concursus maßgeblichen amerikanischen Recht ist ein Verfahren nach Chapter 11 Bankruptcy Code (Chapter 11) über das Vermögen der Antragsgegnerinnen eröffnet worden. Die Eröffnung des Verfahrens ist nach Sec. 301, 362 Bankruptcy Code durch den am 4. Februar 2024 gestellten Antrag der Antragsgegnerinnen bewirkt worden. Darüber hinaus hat der US Bankruptcy Court for the District of Delaware die weltweite automatische Durchsetzung, die Anti-Diskriminierungsvorschriften und den ipso facto Schutz der Sec. 362, 365, 525 und 541(c) Bankruptcy Code - nach bestimmten Maßgaben – und damit die Insolvenzeröffnung mit Anordnung vom 6. Februar 2024 bestätigt.

Das Verfahren nach Chapter 11 zielt auf die Reorganisierung und Sanierung eines Unternehmens dadurch ab, dass ein Reorganisationsplan ausgearbeitet wird, der von den Gläubigern angenommen und vom Gericht bestätigt werden muss. Während der Dauer des Verfahrens behält der Schuldner unter dem ipso facto Schutz der Sec. 362, 365, 525 und 541(c) Bankruptcy Code prinzipiell weiterhin die Verwaltungs- und Vertretungsbefugnis und wird ein Verwalter nur ausnahmsweise ernannt.

Ob ungeachtet der damit nach wie vor bestehenden Handlungsfähigkeit der Antragsgegnerinnen in der Eröffnung eines Verfahrens nach Chapter 11 die Erklärung einer Insolvenz im Sinne von Regel 311.1 Satz 1 VerfO gesehen werden kann, bedarf keiner abschließenden Entscheidung (vgl. dazu einerseits BGH, Urteil vom 13.10.2009 – X ZR 79/06, GRUR 2010, 861 zu § 240 ZPO; andererseits EPA JBK, Entscheidung vom 13.10.1998 - J 26/95, zu Regel 90(1)b) [heute Regel 142.(1)b)] AO EPÜ).

Denn auch wenn dies bejaht wird und damit die Voraussetzungen der Anwendbarkeit von Regel 311.1 Satz 1 VerfO gegeben sind, besteht dennoch kein Grund, das Verfahren auszusetzen.

Nach dem Wortlaut von Regel 311.1 Satz 1 VerfO ist eine Aussetzung zwar vorgesehen, wenn eine Partei für insolvent erklärt worden ist.

Die Regeln der Verfahrensordnung sind aber im Sinne von Art. 41 Abs. 3 EPGÜ dahin auszulegen, dass ein fairer Ausgleich zwischen den berechtigten Interessen aller Parteien gewährleistet wird, die Verfahren so effizient und kostengünstig wie möglich durchgeführt werden und den Richtern der erforderliche Ermessensspielraum verschafft wird, ohne die Vorhersehbarkeit des Verfahrens zu beeinträchtigen. Insbesondere mit den Prinzipien der Prozessökonomie und Kosteneffizienz wäre es aber nicht vereinbar, wenn das Verfahren auch in einem Fall ausgesetzt werden müsste, in dem eine Partei erst nach Schluss der mündlichen

Verhandlung für insolvent erklärt worden und der Rechtsstreit entscheidungsreif ist. In diesem Stadium des Verfahrens haben die Parteien bereits alle Verfahrensschritte unternommen und sind alle Kosten den Parteien bereits entstanden. Wenn sich die Entscheidung oder Anordnung auf die Konkursmasse auswirkt, unterscheidet sie sich auch nicht von der Wirkung, die eine vor der Konkurserklärung ergangene Entscheidung oder Anordnung gehabt hätte. Außerdem wiegt das Interesse an einer rechtzeitigen Anordnung besonders schwer in einem auf einstweiligen Rechtsschutz gerichteten Verfahren, wie es auch im vorliegenden Fall gegeben ist. Zudem führt es zu einem fairen Ausgleich zwischen den berechtigten Interessen der Parteien, wenn Ereignisse, die sich erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung ergeben haben, gleichermaßen bei der Entscheidungsfindung nicht mehr zu berücksichtigen sind.

Dass insbesondere die Grundsätze der Prozessökonomie und Kosteneffizienz sowie des fairen Ausgleichs zwischen den berechtigten Interessen der Parteien dafür sprechen, das Verfahren nicht auszusetzen, wenn eine Partei nach Schluss der mündlichen Verhandlung für insolvent erklärt wird und der Rechtsstreit entscheidungsreif ist, wird durch vergleichbare Regelungen im nationalen Zivilprozessrecht mehrerer Vertragsmitgliedstaaten des Übereinkommens bestätigt.

Nach der französischen und deutschen Zivilprozessordnung hat die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen einer Partei zwar grundsätzlich die Unterbrechung des Zivilverfahrens zur Folge; das gilt aber nicht, wenn das Insolvenzverfahren erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung eröffnet wird (Art. 369, 371 Code de procédure civile; §§ 240, 249(3) Zivilprozessordnung). In Italien tritt die Unterbrechung zwar ein, wenn der Vertreter der Partei, über deren Vermögen ein Insolvenzverfahren eröffnet worden ist (Art. 300 Codice di procedura civile), dies in der Verhandlung erklärt oder die anderen Parteien benachrichtigt; dies ist nach der Rechtsprechung der Corte di Cassazione aber nach Schluss der mündlichen Verhandlung nicht mehr möglich (Corte di Cassazione vom 3. März 2022 - 7076/2022). In den Niederlanden wird das Verfahren bei Zahlungsansprüchen mit der Erklärung der Insolvenz ausgesetzt, während der Kläger hinsichtlich anderer Ansprüche die Aussetzung verlangen kann, um den Insolvenzverwalter in das Verfahren einzubeziehen (Art. 28 und 29 Faillissementswet); diese Vorschriften sind aber nicht anwendbar, wenn der Fall bereits entscheidungsreif ist (Art. 30 Faillissementswet).

Nach alledem ist es gerechtfertigt, das Verfahren im vorliegenden Fall nicht auszusetzen, weil das Verfahren nach Chapter 11 über das Vermögen der Antragsgegnerinnen erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung eröffnet worden ist.

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ANORDNUNG

Die Anträge auf Aussetzung des Verfahrens beider Parteien werden zurückgewiesen.

Klaus Grabinski

President of the Court of Appeal and

judge-rapporteur

Françoise Barutel

legally qualified judge

Peter Blok

legally qualified judge

Rainer Friedrich

technically qualified judge

Cornelis Schüler

technically qualified judge

Eurico Igreja

Employee of the Registry